Kolumne: Gesellschaftskunde Die Angst, überflüssig zu sein

Leistungsdruck zielt heute nicht mehr darauf, seine Aufgabe besonders gut machen zu müssen, sondern zu beweisen, dass man überhaupt nötig ist. Doch das ist kein Ansporn, sondern schürt Ängste.

Wer früher in die Lehre ging, stand vor der Herausforderung, bestimmte Fertigkeiten zu lernen, sich als geschickt und fleißig zu bewähren, den Lehrmeister zufriedenzustellen. Auch wer den akademischen Werdegang einschlug, stand vor allem vor der Ungewissheit, ob er den Anforderungen seines Fachs genügen und die intellektuellen Herausforderungen im Wissenschaftsbetrieb bestehen würde. Und wenn die Rigorosa geschafft waren, flogen erleichtert die Doktorhüte in die Luft.

Heute ist eine weitere Herausforderung hinzugekommen, die das Lebensgefühl von Berufseinsteigern wie von langjährigen Angestellten grundiert: die Herausforderung, seine Notwendigkeit zu beweisen, klarzumachen, dass man zur Arbeit berechtigt ist. Man kann auch sagen: Aus der Angst zu versagen ist die Angst geworden, überflüssig zu sein.

Beides unterscheidet sich fundamental, denn gegen das Versagen gibt es Mittel. Im Zuge seiner Ausbildung lernt der Einzelne die Anforderungen in seinem Beruf kennen, versucht, ihnen zu genügen, strengt sich an, so gut er kann. Wenn das nicht genügt, kann das tragisch enden. Davon handeln all die großen Vater-Sohn-Romane des 20. Jahrhunderts, in denen die Sprösslinge erfolgreicher Unternehmerdynastien nicht mehr die Dynamik und den Biss ihrer Väter entwickeln, sondern melancholisch zuschauen, wie ihr Erbe den Bach heruntergeht. Versagensangst lähmt.

Doch das Gefühl, eigentlich überflüssig zu sein, ist eine noch größere Bedrohung. Denn sie verdammt den Einzelnen dazu, permanent seinen Wert zu beweisen, sich gegenüber dem Chef und in Konkurrenz mit den Kollegen als begehrenswert darzustellen; wie bei einer Ware die Nachfrage nach sich selbst zu steigern. Darum bilden sich Menschen heute auf eigene Kosten fort, kontrollieren ihr Aussehen, ihr Auftreten, ihre Rhetorik. Sie perfektionieren ihr Selbstmarketing - und es ist kein Zufall, dass Begriffe aus der Ökonomie diese Strategien beschreiben.

Vielleicht ist es also zu pauschal, Leistungsdruck für die vielen Burn-outs in der heutigen Arbeitswelt verantwortlich zu machen. Denn womöglich belastet die Menschen vielmehr der Druck, sich anpreisen zu müssen und zu spüren, wie es immer beschwerlicher wird, die Nachfrage nach dem eigenen Selbst hochzuhalten. Das ist nicht mehr der Druck, es besonders gut machen zu wollen, das stellt infrage, wer man ist. Anerkennung bei der Arbeit aber kann nie eine Antwort auf diese Frage sein.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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