Kolumne: Gesellschaftskunde Der Fluch des Andersseins

Menschen wollen sich abheben von der Masse. Das stärkt ihr Selbstbewusstsein. Doch anders sein kann man heute nur noch, wenn man die anderen permanent im Blick hat - und sich selbst vergleicht. Das kann kirre machen.

Die meisten Menschen wollen nicht sein wie alle anderen. Das ist nicht verwunderlich und war wahrscheinlich auch schon so, als noch nicht vom "Wahn der Authentizität" die Rede war und vom "Terror des Individualismus". Schon vor dem digitalen Zeitalter haben Menschen versucht, durch Kleidung, Schmuck oder originelles Benehmen hevorzustechen, andere zu beeindrucken und sich von der Masse zu unterscheiden. Das ist eine Form der Selbstbestätigung. In Abgrenzung zu anderen kann man besser Ich sagen.

Heute aber geben Menschen sehr viel mehr von sich preis als noch in früheren Epochen. Sie versenden Bilder aus ihrem Leben, posten Bemerkungen zum Tagesgeschehen, geben ständig Auskunft darüber, was sie gerade tun, denken, finden. So gibt es unzählige Anlässe, sich selbst zu vergleichen. Und zwar nicht mehr nur grob wie früher, als Urlaubsziele ausgetauscht oder Statussymbole auf den Tisch geblättert wurden: "Mein Haus, mein Auto, mein Boot." Heute ist die Selbstauskunft so differenziert und persönlich, dass sie sich auch auf intime Lebensbereiche erstreckt. Wo sind die anderen gerade, mit welchen tollen Typen amüsieren sie sich, welche aufregenden Dinge erleben sie, welche Wünsche machen sie wahr? Und kann ich da mithalten?

Sich von anderen abzuheben, ist zu einer anstrengenden Aufgabe geworden, weil sie inzwischen alle Lebensbereiche umfasst, nicht nur das Äußere, Kleidung, Stil, Besitz, sondern auch das Innere, Lebensentwurf, Selbstverwirklichung, Hoffnungen, Träume, Ängste. Wer heute Originalität beweisen will, muss ausgefallene Dinge unternehmen, sich mit besonderen Menschen umgeben, einen unorthodoxen Lebensstil pflegen. Und er muss die anderen immer im Blick haben, um die neuesten Trends zu erkennen, die zu pflegen und bald auch wieder zu verwerfen sind.

Das ist anstrengend. Und es zwingt dazu, sich ständig mit Lifestyle-Fragen zu beschäftigen. Manche hält das so in Atem, dass sie die Gegenwart verpassen und kaum noch den glückseligen Zustand der Zufriedenheit erreichen. Denn der ist mit Ankommen und Ausharren im Status quo verbunden - und so auch mit der Gefahr, dass die anderen vorbeiziehen, längst wieder Filterkaffee trinken, während man selbst noch im Latte Macchiato rührt und das für den letzten Schrei hält. Man kann aber auf Distanz gehen zum Markt der Möglichkeiten, der sich in den sozialen Netzwerken auftut, und betrachten, ohne zu vergleichen. Also Gelassenheit üben. Wäre mal was anderes.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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