Gesellschaftskunde Denken kann der Mensch nur allein

Im Dezember ist bei vielen der Terminkalender voll, es bleibt noch weniger Zeit zum Alleinsein. Die braucht der Einzelne aber, um sich selbst nicht abhandenzukommen.

Gesellschaftskunde: Denken kann der Mensch nur allein
Foto: Krings

Der Mensch kann immer schwerer mit sich alleine sein. Lieber checkt er Mails, streunt durchs Internet, verliert sich in den unendlichen Empfehlungsketten von Artikeln, Filmen, Fotos in den sozialen Medien, wenn ihn nicht sowieso Job, Familie, Freizeit in Anspruch nehmen. Immer ist etwas zu tun oder zu regeln. Das Handy legt schon lange niemand mehr wirklich auf die Seite.

Vielleicht hat das gar nicht so viel mit Technikbegeisterung und Erreichbarkeitszwängen zu tun. Vielleicht geht es vor allem um die perfekte Ablenkung vom eigenen Ich. Ein Wisch, schon ist das Zusichkommen abgewendet, öffnet sich das Tor zum Irgendwo und Irgendwas. Das schafft Erleichterung und schützt vor der Begegnung mit sich selbst.

Denken lässt sich nur allein

Doch wirklich denken kann der Mensch nur, wenn er mit sich alleine ist. Wenn er sich nicht ablenken lässt, sondern in jenen Raum der Reflexion eintritt, in dem er sich bei der Sinnsuche erleben kann. Und aushalten muss. Ein Mensch, der die Gesellschaft mit sich selbst nicht suche, denke überhaupt nicht, hat noch radikaler die Philosophin Hannah Arendt geschrieben. So einer lasse andere denken, folge ihnen blind, sei nie frei oder selbständig.

Ein Leben ohne bewusste Momente des Alleineseins, des Mitsichseins, ist also ein zutiefst entfremdetes, ein ausgehöhltes Leben. Nur fühlt es sich so nicht an. Menschen, die ständig mit irgendetwas beschäftigt sind, mit irgendwem in Kontakt stehen, für irgendwen da sind, gelten ja als besonders lebendig und können so auch vor sich selbst bestehen. Mitten im Leben, keine Zeit für nichts - kennt man, geht allen so. Da muss man sich nicht rechtfertigen. Muss nicht einmal wahrnehmen, dass man eigentlich vor sich selbst auf der Flucht ist.

Im Dezember braucht es Momente der Selbstbesinnung

Dass der Mensch ohne Raum zum Denken aus dem Blick verliert, wer er ist, wie er handelt, welche Strukturen er stützt, gegen welche er anlebt, bleibt unentdeckt. Und wenn sich das Innere doch leer anfühlt, werden neue Anreize gesucht, wird weiter von außen befüllt.

Heute hat der Dezember begonnen — eine Zeit im Jahr, in der die Termindichte steigt und die doch einlädt, sich Momente der Selbstbesinnung zu verschaffen. Alleinsein ist anders als Einsamkeit kein Schrecknis, vor dem man fliehen sollte. Alleinsein hilft beim Leben.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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