Politische Morde Darum ist es so oft Gift

Viktor Juschtschenko, Alexander Litwinenko, Sergej und Julia Skripal, zuletzt Alexej Nawalny: Sie und viele andere wurden Opfer mysteriöser Anschläge mit toxischen Substanzen. Gift ist nicht zufällig erste Wahl, wenn es um die Beseitigung politischer Gegner geht.

 Der russische Kremlkritiker Alexej Nawalny hatte Glück. Er überlebte einen Giftanschlag (Archivbild).

Der russische Kremlkritiker Alexej Nawalny hatte Glück. Er überlebte einen Giftanschlag (Archivbild).

Foto: dpa/Uncredited

Mord ist eine scheußliche Sache. Einmal abgesehen von der Schwere der Schuld sind die Begleitumstände meist schockierend. Häufig fließt Blut. Das macht den Anblick der Opfer noch schrecklicher. Zum Gruseln auch das Arsenal der todbringenden Werkzeuge, mit denen Menschen andere ins Jenseits befördern. Tatortreiniger wollte man deshalb nie werden. „Tatort“ gucken schon eher. Ein Krimi kommt selten ohne die genannten Zutaten des Grauens aus.

Wie unspektakulär erscheint dagegen ein Verbrechen, bei dem der Tod durch Gift eintritt. Die Waffen: weder Messer, Schlagstock oder Schießeisen, vielmehr weißes Pulver, farblose Flüssigkeit, unsichtbares Gas. Der Einsatz: Anstelle eine Stichs eine harmlose Handbewegung, bei der wie zufällig eine winzige Substanz in eine Tasse fällt, statt eines knochenbrechenden Schlags ein flüchtiges Streifen der Haut, kein krachender Feuer- sondern ein lautloser Sprühstoß im Vorübergehen. Mitunter reicht der Kontakt zu kontaminierten Gegenständen des Alltags. Und erst die Wirkung: Nicht selten passiert zunächst einmal –  gar nichts.

Nach ein paar Stunden, ein paar Tagen, einer Woche bekommt das Opfer vielleicht Husten. Oder andere Symptome, die auf eine der vielen schlimmen Krankheiten hindeuten, die auf dieser Welt so wüten. Nur, dass sie einen immer schwereren Verlauf nimmt, die Ärzte ratlos sind und der Patient am Ende stirbt. Vom Täter fehlt jede Spur. Gab es überhaupt einen?

Es ist wahr: Nichts kann so unspektakulär töten wie Gift. Aber nichts tötet zugleich so perfide. Daher greifen dunkle Mächte, oder sagen wir ruhig: im Geheimen operierende, ihren Auftraggeber ungern preisgebende Organisationen, vorzugsweise zu Gift, wenn es darum geht, Gegner, die meist politisch engagiert sind, zumindest mundtot zu machen. So geschehen zuletzt bei Alexej Nawalny, dem russischen Oppositionspolitiker, der während einer Reise in Sibirien vergiftet und am Ende einer dramatischen Rettungsaktion von Ärzten der Berliner Charité gerettet wurde.

Nun offenbart ein Blick in die Vergangenheit, dass mit Gift schon des Öfteren Geschichte geschrieben wurde. Extrem toxische Stoffe waren schon immer ein Mittel der Wahl, Leute, die im Weg standen, unter ungeklärten Umständen dahinscheiden zu lassen. Im 4. vorchristlichen Jahrhundert, in der Endphase des altpersischen Großreichs, schwang sich etwa der Eunuch und Erste Hofminister Bagoas zum Königsmacher auf, indem er zuerst Artaxerxex III. und fast alle seine Söhne vergiftete.  Nur einen ließ er am Leben und machte ihn zu seiner Marionette.

Nero soll deshalb auf den römischen Kaiserthron gelangt sein, weil seine Mutter Agrippina ihren Mann Claudius zuvor vergiftet hatte, vermutlich mit blauem Eisenhut. Auch der mächtige Borgia-Clan, aus dem Ende des 15. Jahrhunderts zwei Päpste hervorgingen, genießt den zweifelhaften Ruf, die Gesundheit seiner Feinde gnadenlos durch Gift ruiniert zu haben. Nicht nur in der Renaissance schmückten spezielle Ringe, in deren Hohlräumen sich todbringender Inhalt verstecken ließ, die Finger heimtückischer Trinknachbarn.

Entsprechend groß war in den gehobenen Ständen die Angst, vergiftet zu werden. Sogar der Brauch, bei Tisch die Gläser klingen zu lassen, soll ursprünglich eine reine Vorsichtsmaßnahme gewesen sein: Gefüllte Kelche wurden nicht unbedingt herzlich, in jedem Fall aber so hart aneinandergestoßen, dass etwas vom Inhalt in das Gefäß des jeweils anderen schwappte. Zögerte sodann einer zu trinken, war das wie das Bimmeln eines Alarmglöckchens.

Einen Vorkoster kann sich schließlich nicht jeder leisten. Schon gar nicht die zahllosen Ehemänner und -frauen, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts durch das leicht zu beschaffende Arsen dahingerafft wurden, heimlich verabreicht vom angetrauten Partner, der darin die einzige Möglichkeit sah, den heiligen Bund zu lösen. Doch bereits 1836 entwickelte der britische Chemiker James Marsh ein Verfahren, mit dem sich selbst winzigste Mengen der tödlichen Substanz zweifelsfrei nachweisen ließen. Damit neigte sich die mörderische Karriere des auch als „Poudre de succession“ (Erbschaftspulver) berüchtigten Gifts dem Ende zu. Dennoch gehen Experten davon aus, dass es sich bei einem erheblichen Teil der geschätzt 1200 bis 2000 Tötungsdelikte, die jedes Jahr in Deutschland unerkannt bleiben, um Giftmorde handelt.

Heutzutage sind die Nachweismethoden so präzise, dass sich der Verdacht, es könnte Gift im Spiel gewesen sein, fast immer bestätigt – wenn es denn einen gibt. Natürlich rechnen die Drahtzieher eines politischen Verbrechens damit, zügig in den Fokus zu geraten. Denn wo ein Regimegegner dahinscheidet, existiert schließlich auch ein Regime. Mitunter sogar ein ebenso skrupelloser Rechtsstaat. Auch der US-Geheimdienst CIA plante zur Zeit des Kalten Krieges einen Giftanschlag auf den kubanischen Diktator Fidel Castro, der jedoch nicht ausgeführt wurde. Und zwei Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad ließen sich erwischen, als sie Chalid Maschal, einem Führer der Terrororganisation Hamas, 1997 in Jordanien Gift ins Ohr sprühten. Der Jordanische König intervenierte, Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu musste ein Gegengift herausrücken, Maschal überlebte. Warum wird dennoch kaltblütig an der Gift-Methode festgehalten? Zumal es sich obendrein oft um außerordentlich seltene Substanzen handelt, die in der Regel aus Hochsicherheitstrakten stammen: strahlende Isotope, chemische Kampfstoffe. Zu so etwas hat nur ein sehr kleiner und daher überschaubarer Kreis von Personen Zugang. Bei Kim Jong Nam, dem in Ungnade gefallenen Halbbruder des nordkoreanischen Machthabers Kim Jong Un, war es das tödliche Nervengift VX, das ihm im Februar 2017 am Flughafen von Kuala Lumpur von zwei Frauen ins Gesicht gerieben wurde. Die Frage, wer sowas haben könnte, stellt sich nicht.

Auftragsmörder mögen hartgesotten sein, im Falle eines Giftanschlags aber müssen sie ihre Zielperson nicht einmal sterben sehen. Ein weiterer Vorteil: Ihnen bleibt meistens Zeit, um vom Tatort zu verschwinden. Eine vergiftete Person haucht ihr Leben nicht schlagartig in einem Park aus, wie der Exil-Tschetschene Selimchan Changoschwili, der 2019 im Berliner Kleinen Tiergarten hinterrücks von einem aus Moskau über Paris eingereisten russischen Staatsbürger erschossen wurde (der gefasst werden konnte und jetzt vor einem deutschen Gericht steht). Oder in einem Aufzug, wie die kremlkritische russische Journalistin Anna Politkowskaja, die am 7. Oktober 2006 – Wladimir Putins Geburtstag – auf dem Weg in ihre Moskauer Wohnung aus nächster Nähe mit einem Kopfschuss getötet wurde.

Opfer von politisch motivierten Giftanschlägen sterben aus einem bestimmten Grund vergleichsweise langsam – und selten einsam. Familienangehörige, Freunde, Gesinnungsgenossen werden Zeugen ihres qualvollen Verfalls. Das ist Absicht der mysteriösen Auftraggeber – und Teil ihrer Botschaft: So kann es gehen, wenn man sich mit uns anlegt. Auch ihr seid gemeint. Auch euch kann es treffen. Jederzeit. Überall. Ihr seid schutz- und machtlos. Eine Chance, jemals den Schuldigen zu finden und Gerechtigkeit zu erlangen, habt ihr nicht.

Im Fall des einstigen KGB-Offiziers Alexander Litwinenko, der 2003 zu den Briten übergelaufen war, nahm sogar die ganze Welt an seinem Sterben teil. Es gibt dieses ikonische Bild, es zeigt Litwinenko im November 2006 nach dreiwöchigem Martyrium, wie er ohne Haare im Hospital liegt, in die Kamera blickt und aufgegeben hat.  Wenige Stunden, bevor er das Bewusstsein verliert, sagt er der „Times“ noch, der Kreml habe ihn zum Schweigen gebracht. Erst spät wird in seinem Körper radioaktives Polonium entdeckt.

Nach dem Exitus des Opfers beginnt das Finale der Verschleierung. Ein politischer Giftmord, so hohe Wellen er am Ende auch schlagen mag, bietet die ideale Plattform für Nebelmaschinen, die den Blick auf die Tatsachen trüben sollen. War das Opfer vielleicht krank? Hatte es getrunken? War es süchtig? Nahm es Medikamente? Wenn ja, vielleicht die falschen? So war es ebenfalls im Fall Nawalny. Ob der Kreml auch hinter dieser Attacke steckt, lässt sich wie bei den anderen Verdachtsfällen wohl nie eindeutig beweisen. Die Tatsache aber, dass der russische Geheimdienst Nawalny lückenlos überwachte, lässt den Schluss zu, dass Moskau den oder die Täter zumindest deckt.

Und auch das ist durchaus ein Teil der Drohung: Wir könnten durchaus unsere Finger im Spiel haben. Aber wir werden so lange so viele Behauptungen verbreiten, bis die Wahrheit am Ende nur noch eine unter vielen Versionen ist. Auch wenn sie so abstrus klingen wie die Unterstellung des Vorsitzenden der russischen Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, der die Frage aufwarf, ob die Vergiftung Nawalnys nicht tatsächlich eine Provokation Deutschlands sei.

Der Anschlag auf Nawalny ist missglückt. Ebenso wie die Dioxin-Attacke auf den ukrainischen Oppositionspolitiker Viktor Juschtschenko, der im Wahlkampf 2004 gegen den damaligen  Ministerpräsidenten Viktor Janukowitsch antrat – einen Freund Putins.  Und auch der frühere russische Doppelagent Sergej Skripal und dessen Tochter Julia überlebten das Nervengift Nowitschok, das in ihre Körper gelangt war. Beide scheinen jedoch abgetaucht zu sein, und auch der noch immer von der Vergiftung gezeichnete Jutschenko entgegnete erst kürzlich auf die Frage, ob er glaube, dass Putin der Auftraggeber gewesen sei: „Ich kenne die Antwort, aber ich kann sie nicht aussprechen.“

Nawalny hingegen beabsichtigt offenbar nicht zu schweigen. „Die russische Führung hat einen solchen Hang zu Vergiftungen entwickelt, dass die so bald nicht aufhören werden. Da wird meine Krankengeschichte noch lehrreich sein“, sagte er im „Spiegel“. Sobald es seine Gesundheit zulasse, werde er in Moskau weitermachen. Und dann? Diese Frage ist so offen wie die, inwiefern das Gift, das Nawalny galt, die Beziehungen Deutschlands, der Europäischen Union, des ganzen freien Westens zu Russland verändern wird.

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