Bundespräsident Gaucks Bürgertum

Bürger muss man erst werden, durch demokratische Teilhabe – das ist das Credo von Joachim Gauck. Er könnte die Deutschen lehren, dass Bürgertum mehr ist als eine soziale Schicht: eine Haltung.

Düsseldorf Wenn er von Freiheit spricht, ist meist der Bürger nicht weit. So auch am Sonntag. Joachim Gauck war soeben zum Bundespräsidenten gewählt worden, hatte die Wahl angenommen und war ans Rednerpult im Reichstag getreten, um seine ersten offiziellen Worte als Staatsoberhaupt zu sprechen. Er erinnerte sich an die erste (und letzte) freie DDR-Volkskammerwahl, auf den Tag 22 Jahre zuvor: "Wir hatten gewählt. Wir, das waren Millionen Ostdeutsche, die nach 56-jähriger Herrschaft von Diktatoren endlich Bürger sein durften." Und: "Ich hatte einfach zu lange auf das Glück der Mitwirkung warten müssen, als dass ich die Ohnmacht der Untertanen je vergessen könnte."

In zwei Sätzen skizzierte da der neue Präsident, was für ihn den Bürger ausmacht: demokratische Mündigkeit. Bürger ist man nicht laut Ausweis, lautet Gaucks Credo, Bürger wird man durch das Recht zur Teilnahme am öffentlichen Leben. Noch schärfer formulierte es Gauck in seiner 2009 veröffentlichten Autobiografie "Winter im Sommer, Frühling im Herbst": "Wer einst nur als Staatsinsasse mit staatlich geregelter Eingangs- und Ausgangsordnung aus dem Biotop gelebt hatte, erkannte nun seine Rechte, erklärte sich für zuständig."

Soll heißen: Nur wer Bürger ist, ist frei, und nur wer frei ist, ist Bürger. Gauck trägt den Titel wie eine Königswürde – unvergessen seine Werbung für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", für die er sich 2010, nach der Niederlage gegen Christian Wulff, vor dem Schloss Bellevue postierte. Unterzeile: "Joachim Gauck, Bürger". Das Selbstverständnis, das dahintersteckt, ist universal und klassich obendrein. Gaucks Bürger ist der Citoyen der Aufklärung und der Französischen Revolution – ein, in den Worten von Jean-Jacques Rousseau, "in höchstem Maße politisches Wesen, das nicht sein individuelles, sondern das allgemeine Interesse ausdrückt".

Dieses Wesen brauchte lange, um in Deutschland Fuß zu fassen. 1794, eine ganze Generation nach Rousseau, definierte das preußische Landrecht den "Bürgerstand" bloß negativ, als den großen Rest – nicht Adel, nicht Bauer. Und noch 1918, als das preußische Kaiserreich schon in Trümmern lag, schrieb Thomas Mann – also einer, den die große Mehrheit der Deutschen ohne Zögern unter ihre glänzendsten Köpfe einordnen würde: "Ich bekenne mich tief überzeugt, dass das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, und dass der vielverschrieene ,Obrigkeitsstaat' die dem deutschen Volk angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist." Titel des Werks: "Betrachtungen eines Unpolitischen".

Bürgertum, da sind sich Linke wie Rechte bemerkenswert einig, wabert in der Bundesrepublik heute irgendwo zwischen soziologischer Kategorie und Lebensgefühl. Der Elitenforscher Michael Hartmann beziffert den Anteil des Bürgertums im engeren Sinn an der Gesellschaft auf ganze 3,5 Prozent. 2005 mutmaßte der konservative Publizist Joachim Fest: "Vielleicht gibt es deshalb keinen Bürger mehr, weil das dem Einzelnen zu viel abverlangt." Das ist das Bedauern des gescheiterten Bewahrers. Frustrierte Revolutionäre andererseits nennen Gaucks antitotalitäre Freiheitsliebe – zu lesen etwa kürzlich in der linken "Tageszeitung" – den "schnöden, gutdeutschen Antikommunismus" eines "reaktionären Stinkstiefels".

In der Tat steht Gaucks freiheitliche Bürgerlichkeit quer zum bundesdeutschen Durchschnitt. Doch die Polemik ist ungerecht – Joachim Gauck ist ein Bürger, kein Bourgeois. Seine Präsidentschaft könnte die Deutschen lehren, dass Bürgertum mehr ist als eine Gesellschaftsschicht, mehr auch als ein Lebensstil: eine Haltung.

(RP)
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