Gauck in Prag ganz persönlich

Interview Bundespräsident Joachim Gauck zum Umgang seiner Familie mit den Erlebnissen der NS-Zeit, zur Frage der deutschen Schuld und über den besonderen Bezug, den er als ein aus der DDR stammender Politiker zu westlichen Werten hat.

Prag (RP) Bundespräsident Joachim Gauck hat gestern seinen Antrittsbesuch in der Tschechischen Republik absolviert. Im Vorfeld der offiziellen Visite gab Gauck der zur Rheinische Post Mediengruppe gehörenden tschechischen Tageszeitung "Mlada Fronta Dnes" ein Interview, das wir im Folgenden auszugsweise abdrucken.

Herr Bundespräsident, Sie haben sich im Juni in einem Brief an den tschechischen Präsidenten Václav Klaus für die NS-Massaker von Lidice und Leáky während des Zweiten Weltkriegs entschuldigt. War das dem politischen Protokoll geschuldet, oder kam hier Ihre persönliche Ansicht zum Ausdruck?

Gauck Mir war es ein persönliches Anliegen, aber ich wollte auch, dass das deutsche Staatsoberhaupt sich zu diesen Verbrechen äußert. Einige der Menschen, die als Kinder dieses Massaker überlebt haben, sind heute noch unter uns. An sie vor allem habe ich gedacht, als ich an Staatspräsident Václav Klaus schrieb. Und ich habe an die mutigen Männer gedacht, die ihr Leben gaben bei dem Versuch, für ihr Volk die Freiheit zu erringen.

Ihr Vater, der später von den Sowjets nach Sibirien deportiert wurde, verbrachte auch einige Zeit in britischer Gefangenschaft. Wie hat man bei Ihnen zu Hause nach dem Krieg darüber gesprochen?

Gauck Mein Vater war bei Kriegsende kurz in britische Gefangenschaft geraten. Erst im Sommer 1946 kehrte er nach Hause zurück. 1951 deportierten ihn die Kommunisten ohne jeden Grund, unter dem Vorwand, Spionage beziehungsweise anti-sowjetische Propaganda betrieben zu haben, in ein sibirisches Arbeitslager. Ich war glücklich, als er zurückkam, und ich hatte Mitleid mit ihm, denn er war ein unschuldiges Opfer. Dadurch wurde in meiner Familie wenig über den Krieg, die Naziverbrechen wie den Holocaust gesprochen. Erst als Jugendlicher und als Student habe ich meinen Eltern dann kritische Fragen gestellt. Ich fand es befremdlich, dass sie in der NS-Zeit Mitläufer waren. Dankbar war ich natürlich, dass mein Vater nicht an Mordtaten beteiligt war, sondern als Lehrer an einer Marineschule nicht im Fronteinsatz war. Geprägt hat mich außerdem meine Leidenschaft für das Lesen: Das "Tagebuch der Anne Frank" etwa vermittelte mir als Jugendlichem einen tiefen und nachhaltigen Eindruck davon, dass die Deutschen im Nationalsozialismus schwerste Schuld auf sich geladen hatten. Übrigens war es für mich damals sehr schwer, einen Zugang zur Shoah zu finden. Ich erinnere mich, wie fassungslos ich dastand mit einem Buch über den Nationalsozialismus in der Hand und doch niemanden fand, mit dem ich das Geschehene hätte besprechen können.

Wird die Zeit kommen, da die Deutschen aufhören werden, sich für den Zweiten Weltkrieg zu entschuldigen?

Gauck Deutsche haben in der Zeit des Nationalsozialismus unvorstellbares Leid über Millionen Menschen gebracht – über Menschen jenseits der deutschen Grenzen und über Menschen in meinem eigenen Land, auf die die von Deutschland ausgegangene Gewalt grausam zurückschlug. Das werden wir nie vergessen. Die Erinnerung daran müssen wir an die junge Generation weitergeben. Jenseits der nüchternen Opferzahlen kann die Erinnerung an die Zerstörung von Lidice und Leáky uns helfen, das Leid und das Verbrechen mit dem Schicksal einzelner Menschen in Verbindung zu bringen. Das eigentlich Unbegreifliche erschließt sich uns. Ich selbst war fünf Jahre alt, als der Krieg endete und wir befreit wurden, das heißt die Westdeutschen nachhaltig, die Ostdeutschen wurden zu anderer Unfreiheit "befreit". Ich trage also, so wie alle nachfolgenden Generationen, keine persönliche Schuld. Trotzdem werden diese aufgrund der deutschen Geschichte eine besondere Verantwortung tragen: gegen das Vergessen, für das "Nie wieder" und auch für das Existenzrecht Israels. Aber wir können auch sehen, dass Deutschland sich seiner Vergangenheit wie kaum ein anderes Land gestellt hat, dass es ein Garant für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geworden ist. Das mag mit ein Grund dafür sein, dass in Europa heute Erwartungen an Deutschland gestellt werden, mehr Verantwortung zu übernehmen. Wir nehmen diese Stimmen ernst. Meine Landsleute müssen sich allerdings erst noch an diesen Gedanken gewöhnen.

Erwarten Sie, dass von tschechischer Seite mit der gleichen Einfühlsamkeit und Anerkennung auf die eigenen Verbrechen eingegangen wird, auf das Leid, das den Deutschen nach dem Krieg zugefügt wurde?

Gauck Jedes Volk entscheidet selbst über seinen Umgang mit der Geschichte und über seinen Weg zur Wahrheit. In West-Deutschland bedurfte es erst der Studentenbewegung von 1968, dass in weiteren Kreisen als zuvor – und durchaus schmerzhaft – über eigene Schuld gesprochen wurde und mehr Deutsche begannen, Empathie mit den Opfern des Naziregimes zu empfinden. Das war und ist ein Segen, allerdings ein mühsam errungener.

Das Verhältnis zwischen Deutschland und Tschechien ist heute so gut wie nie. In der EU wählen beide Länder aber oft eigene Wege. Sehen Sie da ein Risiko für unsere Beziehungen?

Gauck Deutschland gestaltet seine Zukunft gemeinsam mit seinen europäischen Partnern. Wir haben dies nach 1989 als großes Glück erfahren. Das dürfen wir nicht geringschätzen. Der Nachbarschaftsvertrag von 1992 und die Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997 bilden die solide Grundlage unserer Beziehungen. Wichtig ist mir der Jugendaustausch, der den Weg in die Zukunft bereitet. Ich halte es für ganz selbstverständlich, dass Menschen und Regierungen in Sachfragen unterschiedliche Auffassungen haben, darüber diskutieren und um den richtigen Weg ringen. Ich kann auch nachvollziehen, dass ein Staat, der erst vor wenigen Jahrzehnten seine volle Souveränität wiedererlangt hat, die Abgabe von Souveränität skeptisch betrachtet. Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass Europa – wenn es will, dass seine Stimme in der Welt gehört wird – zusammenstehen und einig sein muss. (...)

Ist Deutschlands Weg anders, wenn Kanzlerin und Bundespräsident aus der ehemaligen DDR stammen?

Gauck Ich war – wie die Bundeskanzlerin auch – mit meinen ostdeutschen Wurzeln mit allen meinen Überzeugungen immer den westlichen Werten von Freiheit und Verantwortung, Demokratie und Recht nahe. Wir haben uns zu lange nach diesen Werten gesehnt. Heute können wir sie leben. Viele Menschen aus Ostmitteleuropa werden diese Werte deshalb besonders nachdrücklich vertreten und verteidigen.

Lucie Suchá führte das Gespräch.

(RP)
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