Sigmar Gabriels Fingerzeig gegen Rechts Emotional nachvollziehbar, politisch inakzeptabel

Meinung | Berlin · SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück wählte die Geste in der Schlussphase des Wahlkampfes, Sigmar Gabriel schon, bevor er offiziell Kanzlerkandidat ist. Brauchen Genossen unter Druck den Stinkefinger?

 Sigmar Gabriel zeigt rechten Demonstranten den Stinkefinger.

Sigmar Gabriel zeigt rechten Demonstranten den Stinkefinger.

Foto: Facebook / Antifa Kampfausbildung e.V.

Autofahrer, die einander beschimpfen, riskieren eine Geldbuße zwischen 600 und 4000 Euro, wenn sie einander den Stinkefinger zeigen. Der Staat will also, dass die Grenze zur Obszönität nicht überschritten wird. Die Strafhöhe bemisst sich vor allem nach den Einkommensverhältnissen. Ein Bundeswirtschaftsminister, SPD-Vorsitzender und Vizekanzler dürfte also sogar mit deutlich höheren Beträgen rechnen müssen, wenn er so das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer kommentieren würde.

Freilich wird jedes Gericht den Einzelfall genau prüfen. Und wenn es dann um Sigmar Gabriels Ausraster in Salzgitter geht, dürfte auch berücksichtigt werden, wie der Fehltritt per Finger minutenlangen Provokationen folgte. Vermummte junge Rechtsextremisten traten Gabriel mit "Volksverräter"-Schildern entgegen, skandierten immer wieder "Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten" und wurden dann auch sehr persönlich. "Mensch, Dein Vater hat sein Land geliebt, und was tust Du, Du zerstörst es", riefen sie Gabriel zu. Damit spielten die Rechtsextremisten auf Gabriels Vater und dessen Einstehen für den Nationalsozialismus ein – wovon sich Gabriel mehrfach deutlich distanzierte.

Eine erste Geste Gabriels war eine passende

Auf dem Video, das aus der Perspektive der Protestler entstand und im Netz die Runde machte, ist zu erkennen, wie Gabriel seine empörten Begleiter und vermutlich auch sich selbst mit einer abwertenden Handbewegung Richtung Schreihälse zu beruhigen versucht. Aber dann gelingt es ihnen doch noch, ihn zu reizen. Für wenige Sekunden geht seine rechte Hand hoch, gilt sein Stinkefinger dem Protest.

Das ist emotional-persönlich nachzuvollziehen, aber politisch alles andere als akzeptabel. Ist die Provokation auch noch so groß, die Übersicht, Routine und Verlässlichkeit eines Spitzenpolitikers zeigt sich auch darin, wie er sich in emotionalen Ausnahmesituationen im Griff hat. Oder eben nicht. Der Vertreter des Volkes hat dem Volk nicht mit obszönen Gesten seine Meinung zu zeigen, dazu hat er genügend andere kommunikative Möglichkeiten.

Natürlich gibt es den Vorläufer aus dem Wahlkampf von 2013, als Peer Steinbrück, den Gabriel als SPD-Spitzenkandidat aller Wahrscheinlichkeit nach ablösen wird, sich mit dem gestreckten Stinkefinger ablichten ließ und die politische Debatte damit auf sich und seinen Stil lenkte. Seinerzeit hatte er sich in der Serie "Sagen Sie jetzt nichts" dem Magazin der Süddeutschen Zeitung gestellt, das damit Politiker dazu bringt, ihre Worte in Gesten auszudrücken.

"Pannen-Peer, Problem-Peer, Peerlusconi, um nette Spitznamen müssen Sie sich keine Sorgen machen, oder?", lautete die Frage. Er reagierte so, dass er damit die Medieninszenierung für mehrere Tage sozusagen um seinen Mittelfinger wickelte. Möglicherweise wiegt die kalkulierte Provokation eines Kanzlerkandidaten schwerer als eine spontane Reaktion eines SPD-Chefs, der sich auch als Privatmensch attackiert fühlt. Andererseits galt die beleidigende Geste Steinbrücks keiner konkreten Person oder Gruppe, die Gabriels schon.

Psychologen haben bei der Untersuchung von US-Präsidentschaftswahlkämpfen herausgefunden, dass die Handbewegungen von erheblichem Gewicht sind, um herauszufinden, was Politikern besonders wichtig ist. Rechtshänder gestikulieren dann stärker mit der Rechten, Linkshänder stärker mit der Linken. Auch Rechtshänder Gabriel wählte die Rechte. Süffisant wird zur Bedeutung der Handzeichen im Wahlkampf angemerkt, dass George Bushs mediale Inszenierung des lautlosen Wahlversprechens ("Lest es von meinen Lippen: Keine neue Steuern") ohne Hände auskam – und dann prompt auch gebrochen wurde. Die berühmte Merkel-Raute, mit der die Bundeskanzlerin symbolisch verknüpft wird, ist das genaue Gegenteil des Stinkefingers. Das macht die Sache apart, auch für Fans krasserer Gesten.

Gabriels Ausbruch ist wird sich verselbständigen

Gabriels Ausbruch ist – anders als Steinbrücks seinerzeitige Provokation – nicht mehr rückholbar. Er wird sich im Bundestagswahlkampf verselbständigen und – ob er es nun will oder nicht – zu seinem Image beitragen. Dass er zu den Robusteren gehört, die es mit der Höflichkeit nicht so genau nehmen, wenn sie gereizt werden, ist dabei keine neue Erkenntnis. Er wird mit diesem Teil seiner medialen Darstellung leben können. Dazu ist sein Fell dick genug. Zur Wiederholung eignet sich der Vorgang indes nicht.

(may)
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