Beklemmendes Bekenntnis Gabriel bricht Schweigen über seine Kindheit

Berlin · Der SPD-Chef überrascht mit dem beklemmenden Bekenntnis über den prügelnden, herrschsüchtigen und rassistischen Vater.

Schlimme Kindheitserlebnisse schleppen auch die robustesten Profi-Politiker ein Leben lang mit sich herum. Dem scharfzüngigen Otto Schily schossen während einer Bundestagsrede die Tränen in die Augen, als er an seine Familie im Krieg dachte. Und jetzt hält auch Sigmar Gabriel nicht mehr hinterm Berg mit seinem prügelnden, herrschsüchtigen, rassistischen und antisemitischen Vater, der ihm die Kindheit wie eine Gefangenschaft vorkommen ließ.

Bereits im vergangenen Jahr ahnte die Öffentlichkeit, dass es in den Vater-Sohn-Beziehungen im Hause Gabriel nicht rund lief. "SPD-Chef Sigmar Gabriel lässt kranken Vater allein", titelte die Berliner Boulevardpresse. Sie war auf den 91-jährigen Walter Gabriel in einem Seniorenheim nahe Hamburg aufmerksam geworden. Sieben Jahre hatten sich Vater und Sohn da schon nicht mehr gesehen. Nicht zu beruflichen Erfolgen des Parteivorsitzenden, nicht zur Geburt der Enkelin. "Ich habe dem Jungen doch gar nichts getan", klagte der Greis über die Medien. Und dass sie sich schon so lange nicht mehr gesehen hätten. Und er im Sterben liege. Doch der scheinbar herzlose Sohn blockte alles ab. Einen Monat später war Walter Gabriel tot.

Die Hinterlassenschaft seines Vaters nahm der SPD-Chef nun doch zum Anlass, sich mit der eigenen Kindheit zu konfrontieren. Er berichtete der "Zeit" in einer Reihe von Gesprächen, er hoffte, dass sich in ihm etwas löse. Bislang aber ohne Erfolg. Das Erlebte sitze zu fest.

Der äußere Rahmen ist schnell erzählt, 1959 geboren, trennen sich die Eltern, als Sigmar Gabriel drei Jahre alt ist. Sieben Jahre tobt der Sorgerechtsstreit, bis die Mutter in letzter Instanz endlich gewinnt. In dieser Zeit fügt sich der junge Sigmar dem Anspruch des Vaters, bei ihm zu wohnen, obwohl er innerlich viel lieber zur Mutter will. Die Rücksichtslosigkeit des Vaters geht so weit, dass er seinen Sohn nach einem der ersten Sorgerechtsurteile schlichtweg entführt und ihn von einer Telefonzelle aus anrufen lässt, dass er beim Papa bleiben wolle. Jahrzehnte später wundert Sigmar Gabriel sich über sich selbst, dass er unbedingt diese Telefonzelle noch einmal wiederfinden wollte.

Es ist ein klarer Hinweis, dass hier Unverarbeitetes schlummert. Und es ist ein Erklärungsansatz für eine schwer zu fassende Persönlichkeit. Gabriel kann verbale Attacken durch eine Körperhaltung unterstreichen, als wollte ein massiver Kämpfer alles aus dem Weg räumen. Doch im nächsten Moment kann der bullige Typ ganz verlegen und tastend erscheinen, so als sei er sich seiner selbst nie ganz sicher.

Es ist dieser offensichtliche latente Zweifel an Selbstgewissheit, dessen Ursachen Gabriel in seiner Vergangenheit sucht. Er wird fündig im frühen Teenager-Alter, als Gabriel endlich aus der Vater-Gefangenschaft befreit ist und bei seiner Mutter wohnt. Ihr bereitet er aber einen riesigen Berg an Problemen, indem er — offensichtlich überfordert — zu stehlen beginnt, Autos und Laternen beschädigt. Dieses Bekenntnis des SPD-Chefs zu einer etwa drei Jahre dauernden Vergangenheit als Straftäter überrascht.

Aber es ist eingebettet in intensive Reue, vor allem seiner Mutter gegenüber, und vom Aussprechen dessen, was viele Kinder traumatisiert: Gabriel wird von seinem Vater oft verprügelt. Er wird gezwungen, die neue Frau seines Vaters als "Mutti" anzusprechen und bei Weigerung mit Taschengeldentzug bestraft. Eine schlechte Schulnote lässt seinen Vater sämtliches Spielzeug des kleinen Sigmar einsammeln und verschenken. Einzig ein Teddy seiner Mutter bleibt dem Vater verborgen. Mit diesem Stofftier betet Gabriel abends dafür, endlich zur Mutter zu dürfen.

Doch bei aller Offenheit bleiben Lücken. An die Zeit beim Vater hat er außer Prügel- und Bestrafungsszenen kaum Erinnerungen. Auch das lässt aufhorchen: Dass sein Vater ein unbelehrbarer Nazi war, will Gabriel erst als Wehrdienstleistender erfahren haben. Zu einem Zeitpunkt, zu dem Gabriel längst glühender Antifaschist ist. Er engagiert sich ausgerechnet an den Gedenkstätten des Holocaust, den sein Vater am liebsten geleugnet sieht.

Wegen einer Kinderlähmung kriegsuntauglich, musste der 1921 geborene Walter Gabriel selbst nicht in den Krieg ziehen. Doch das systematische Durcharbeiten der einschlägigen Pamphlete zeugt davon, wie sehr er der nationalsozialistischen Ideologie noch im hohen Alter verhaftet war. Besonders bizarr: Auf vielen Hundert Karteikarten hat er minutiös notiert, welchen Funktionsträger in Deutschland er mit welchen Anschreiben wie zu indoktrinieren versuchte. Eine Karte trägt den Titel "Gabriel, Sigmar".

Es ist der Ausdruck einer völligen Entfremdung. Zwei Jahrzehnte gibt es keinerlei Kontakt, nachdem der Sohn die Gesinnung des Vaters erkannt hat. Auch der nächste Versuch endet mit erneutem Bruch. Erst der Tod des Vaters setzt einen Prozess in Gang. Er habe "keinen Groll mehr", gibt Gabriel zu Protokoll, sei nicht mehr wütend, fühle sich nicht einmal verletzt. Doch die Öffentlichkeit weiß nun, dass es da trotzdem Narben gibt.

(may-)
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