Schwerpunkt „ Die Zehn Gebote“ Das tägliche Dilemma

Düsseldorf · Das Tötungsverbot und das Strafgesetz sind eng verbunden. Polizisten müssen täglich abwägen, wann ein Verstoß gegen das Gebot legal und notwendig ist.

 Frank Richter (Jahrgang 1959) ist seit 2015 Polizeipräsident in Essen und war von 2005 bis 2012 Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei NRW.  Foto: dpa

Frank Richter (Jahrgang 1959) ist seit 2015 Polizeipräsident in Essen und war von 2005 bis 2012 Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei NRW. Foto: dpa

Foto: picture alliance/dpa/Roland Weihrauch

„Lo tirzach“ heißt es im zweiten und fünften Buch Mose in der Bibel. Aus dem Hebräischen übersetzt bedeutet dies: „Du sollst nicht hinterhältig und heimtückisch töten.“ Bis heute ist dieses fünfte Gebot ein Grundstein unseres modernen Strafgesetzbuches. Den Mord, vorsätzlich begangen – aus Habgier und niedrigen Beweggründen – beschreibt das Gebot somit klar und eindeutig. Damit legt es die Grundlage für soziales und kulturelles Wachstum einer Gesellschaft. Nur wenn das Leben geschützt ist, kann sich ein soziales Miteinander entwickeln.

Von daher ist Mord eine Tat, die bis heute so geächtet wird, dass sie niemals verjährt. In der Wirkungsgeschichte des fünften Gebots zeigt sich, dass die Wurzeln jüdisch-christlicher und humanistischer Ethik mit dem Strafgesetzbuch verschmelzen. Neben dem vorsätzlichen Töten kennt unser Strafgesetzbuch viele weitere Straftaten, die sich aus juristischer Sicht mit Tötungsdelikten und ihrer Sanktionierung befassen.

In Form der Notwehr oder Nothilfe kann Töten sogar legal sein, um sein eigenes oder andere Leben zu retten. Aufgabe der Polizei ist es, die gesellschaftlichen Regeln zu schützen und Gefahren abzuwenden. Dabei gilt es, immer das mildeste Mittel einzusetzen, um das polizeiliche Ziel zu erreichen. Das wird nicht nur in der Ausbildung trainiert, sondern ist fester Bestandteil regelmäßiger Fortbildungen. Wann breche ich Widerstand mit körperlichem Zwang, wann setze ich Reizgas ein, wann greife ich zur Dienstwaffe?

Jeder Polizist kann täglich in die Situation kommen, im Extremfall einen Menschen töten zu müssen. Wenn der Geiselnehmer droht, seine Geisel zu töten, oder der Amoktäter wild um sich schießt. Auch dann handelt die Polizei im juristischen Rahmen von Notwehr und Nothilfe. Töten, um sich oder andere vor dem Tod zu bewahren. Polizisten haben aber keine Sonderrechte, sondern müssen sich nach einem tödlichen Schuss einer staatsanwaltschaftlichen Ermittlung stellen.

Nach juristischen Maßgaben mag es eindeutig sein, doch wie ist das Töten aus Notwehr ethisch zu bewerten? Die Polizei steht vor einem Dilemma: Sie muss Übles tun, um Übles zu verhindern; Gewalt einsetzen, um Gewalt zu begrenzen; töten, um Töten zu verhindern. Unsere Gesellschaft hat die Ausübung physischer Gewalt an Menschen delegiert, die zum Schutz der Gesellschaft ihren Kopf und ihren Körper hinhalten: unsere Polizei.

Wir versuchen, Polizisten darauf vorzubereiten – und nach jedem Schusswaffeneinsatz wird eine psychosoziale Begleitung angeboten. Denn gerade die Menschen, die unsere Freiheit schützen, haben ein tiefsitzendes Gespür dafür, dass Töten grundsätzlich verwerflich ist. Auch, wenn es in dieser Situation die Ultima Ratio war. Diesen Zwiespalt zu spüren und auszuhalten, erfordert ein fein justiertes Gewissen und die ständige Auseinandersetzung mit der besonderen polizeilichen Verantwortung. Die Ethik des fünften Gebotes ist in der täglichen Realität der Polizei nach wie vor aktuell und muss es auch bleiben.

Dieser Text ist Teil eines Schwerpunkts zum Thema „Zehn Gebote“. Mehr dazu und weitere Artikel finden Sie hier.

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