Analyse Fortschritt im Land der Wutbürger

Düsseldorf · Wir sind stolz auf unser Industrieland, dem im Ausland Erfolgsmodell-Charakter zugeschrieben wird. Aber wenn mit Industrie Krach, Dreck und Unbequemlichkeiten einhergehen, ist Widerstand fix organisiert.

 Protest in Osterath: Die Gemeinde soll Knotenpunkt einer Stromautobahn werden.

Protest in Osterath: Die Gemeinde soll Knotenpunkt einer Stromautobahn werden.

Foto: ud

"Es irrt der Mensch, solang er strebt" (J.W. Goethe) –

 Flughafen Düsseldorf im März 2012: Anlieger protestieren für ein Nachtflugverbot.

Flughafen Düsseldorf im März 2012: Anlieger protestieren für ein Nachtflugverbot.

Foto: privat

Man könnte die jüngsten Proteste zum Beispiel in Brasilien gegen die Bau-Gigantomanie vor der Fußball-WM 2014 und vor allem deren absehbare finanzielle Folgelasten für die Brasilianer als Zeichen eines doppelten Irrtums deuten: eines solchen, der sich von architektonischem Größenwahn und einem "Koste es was es wolle"-Tick antreiben lässt; und eines Irrtums, der einem in Deutschland wohlbekannten Gefühl treu bleibt: Man möchte stolz sein aufs eigene Land, das blühen soll und strotzen vor wirtschaftlicher Prosperität, aber wehe, wenn es auf dem Weg dorthin laut, dreckig und unbequem wird und wenn für eine Weile die realen Kosten den erkennbaren Nutzen zu übersteigen scheinen.

 Demo gegen die mittlerweile fertiggestellte CO-Pipeline der Bayer AG in Langenfeld im Juni 2007.

Demo gegen die mittlerweile fertiggestellte CO-Pipeline der Bayer AG in Langenfeld im Juni 2007.

Foto: rm-

Der Industriemanager und ehemalige RAG-Stiftungschef Wilhelm Bonse-Geuking sagte vor Jahren, ihm bereite es Sorgen, wie grundsätzlich negativ die Landsleute in der Wohlstands-Republik Deutschland gegen Technik eingestellt seien. Mit dieser Mentalität füge man dem Land langfristig schweren Schaden zu.

"Grundsätzlich negative Einstellung zur Technik"– sie zielt nicht auf den neuesten High-Tech-Flachbildschirm XXL, der das trauliche Wohnstuben-Ölgemälde von seinem angestammten Platz verdrängt; die Vorbehalte richten sich auch nicht gegen den nagelneuen Alleskönner unter den Supersmartphones, die das Leben einerseits erleichtern, andererseits als kleine technische Sklaventreiber auch beengen. Nein, der Deutsche steht oft im inneren und äußeren Widerstand gegen technische Großvorhaben, auch wenn er sich im Ausland an Lobeshymnen auf traditionelle deutsche Ingenieurskunst erfreut. Der Deutsche lebt nicht nur bevorzugt "im Luftreich der Träume", wie es Heinrich Heine ausdrückte; er liebt es auch einfach, davonzufliegen. Überspitzt formuliert ließe sich feststellen: Den preiswerten Flug nach Mallorca (lässiger Urlauber-Slang: "Malle") von einem Flughafen möglichst nahe der Haustür halten nicht wenige Landsleute für eine Art Wohlfühl-Grundrecht. Es bestünde bei einer geschickt eingefädelten Umfrage die Chance, das gefühlte Grundrecht in die Verfassungsartikel-Charts zu bugsieren – frei nach Bert Brecht: Erst kommt das Fliegen und dann die Moral. Derselbe Bürger, der sich ökologisch bewusst auf jede Palme hieven lässt, um eine Kokosnuss vor dem Absturz zu retten, der bei schwatzhaften Partys den Klimawandel, ach was: die Klimakatastrophe, beschwört, steigt mit Sack und Pack und Kind und Kegel in den Flieger nach Palma oder in die (was sind wir doch für coole Globetrotter!) "Domrep". Eine Ferienradtour entlang der Mosel? "Ach Gottchen, wie uncool ist das denn?!"

Nun irren vielleicht auch – siehe das Eingangszitat – die Technik-Freaks, die Großanlagen-Bauer, Startbahn-Planer, Fluglärm-Produzenten, Kernkraft-Schwärmer, Pipeline-Buddler. Bleiben wir nah dran am Problem: Da gibt es das Ehepaar aus Meerbusch-Büderich, das es in seiner schönen Eigentumswohnung nicht mehr aushalten mochte und in Gefilde ohne Landeanflug-Getöse umzog.

Da gibt es ehrlich besorgte Mütter, Väter, Hauseigentümer in der Region, die in der angekündigten Windstrom-Trassenführung weniger einen Beitrag zum Umweltschutz, vielmehr Nachteile für Haus und Grund und eventuell Gesundheit erkennen. Will man wirklich diesen Menschen in einer ökonomischen Kaltwasserbehandlung den Waschlappen des technischen Fortschritts um die Ohren hauen?

Es stimmt schon: Deutschland verdankt seinen Wohlstand dem Erfindergeist und hochwertigen Industriegütern, vor allem Autos und anderen Maschinen aller Art und Güte. Das Wissen und Können deutscher Technikfüchse und Ingenieurs-Talente ist bei ausländischen Kunden in hohem Maß gefragt. Den legendären, damals etwas gewagt klingenden SPD-Slogan aus dem Bundestagswahlkampf 1972: "Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land" – den würde heute bis auf abseitige Nörgler, DDR-Nostalgiker, romantische Waldläufer mit Baumhaus-Bleibe wohl jeder unterschreiben, der Deutschland kennt und es mit Ländern vergleicht, in denen weniger Glück und – ja, auch das – Fertigkeiten zu Hause sind.

Wie kann man aber stolz sein auf sein Land und dessen Exporterfolge, welche Nachbarländer lieber schrumpfen sähen, wenn man die zugegeben lästigen Begleiterscheinungen in einem dicht besiedelten Industriestandort zum Teufel wünscht? Eggert Voscherau, Aufsichtsratschef der BASF, sagte, es drohe eine systemische Schwächung unserer Existenzgrundlage, wenn die Interessen der Industrie weiterhin ausgeblendet würden. Als Beispiele führte er das Bahn- und Infrastrukturprojekt Stuttgart 21 sowie die Energiewende an. Deutschland drohe von einer Demokratie zu einer Vetokratie zu werden, in der Einzelinteressen die Interessen der Allgemeinheit dominierten.

Was ist zu tun? Mangelt es an politischem Führungswillen? Allein, was hilft es, wenn jemand, der wiedergewählt werden möchte, mit der Fahne des Fortschritts in der Hand voranmarschiert und beim Umdrehen, sprich: der Wahl, merkt, dass ihm die Vetokraten nicht gefolgt sind?

Wir begannen mit Goethe und schließen mit Immanuel Kants aufklärerischer Fanfare: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen." Genau das darf man von Bürgern erwarten: dass sie Großtechnik-Projekte nicht blindwütig ablehnen, dass sie sich stattdessen kundig machen (lassen) und Vor- und Nachteile wägen. Von den Großtechnik-Planern muss verlangt werden, dass sie wie das Weltunternehmen Shell beim Vorhaben einer kilometerlangen Pipeline bei Köln-Porz frühzeitig und glaubwürdig für Bürger-Aufklärung sorgen.

(RP)
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