Berlin EU will im Streit mit Ankara hart bleiben

Berlin · Die türkische Regierung droht mit dem Aus fürs Flüchtlingsabkommen, wenn die Visafreiheit nicht kommt. Welche Folgen hätte das?

 Drei Zusagen wurden erfüllt, drei noch nicht.

Drei Zusagen wurden erfüllt, drei noch nicht.

Foto: Ferl

Die Türkei hat der EU ein Ultimatum gestellt. Wenn türkische Bürger nicht spätestens von Mitte Oktober an ohne Visum in die EU kämen, dann werde sich Ankara auch nicht mehr an das Flüchtlingsabkommen halten, lautet die Drohung. Worum geht es bei der Auseinandersetzung? Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Ist die Visafreiheit Bestandteil des Flüchtlingsabkommens?

Ja. Die EU und die Türkei haben sich am 18. März darauf verständigt, die Visaliberalisierung, über die seit 2013 bereits verhandelt wurde, so zu beschleunigen, dass sie noch im Juni hätte in Kraft treten sollen. Freilich sollte die Türkei 72 Bedingungen erfüllen. Fünf davon sind noch offen, für eine sechste - biometrische Pässe - gab es eine Übergangslösung bis Oktober.

Welche Bedingungen müssen vor allem erfüllt sein?

Neben Datenschutz-Standards, der Zusammenarbeit mit der europäischen Polizeibehörde Europol und Anti-Korruptionsinitiativen vermisst die EU vor allem eine klarere Definition des Terrorismusverdachts in den türkischen Gesetzen. So soll vermieden werden, dass Bestimmungen zur Verfolgung politischer Gegner missbraucht werden. Die Massen-Festnahmen nach dem Putschversuch und die anhaltenden "Säuberungen" zeigen, wie berechtigt die Sorge der EU war.

Funktionieren die anderen Bestandteile des Abkommens?

Kamen im Herbst an einzelnen Tagen über 2000 Flüchtlinge über die Ägäis von der Türkei nach Europa, hat Ankara seine Küste nun so gesichert, dass es nur noch wenige Dutzend Flüchtlinge sind. Im ersten Chaos der Putschnacht und in den folgenden Tagen wurde die Zahl der Flüchtlinge vorübergehend wieder dreistellig. Sie scheint nun wieder gesunken zu sein. Nicht in Gang kommt hingegen der Versuch, im großen Stil illegale durch legale Migration zu ersetzen. Das liegt aber nicht in erster Linie an der Türkei, sondern vor allem daran, dass Griechenland zu wenig Asyl-Entscheider hat, um die Verfahren zügig abzuschließen.

Hält sich auf der anderen Seite denn die Europäische Union an ihre Versprechen?

Staatschef Recep Tayyip Erdogan behauptete, von den sechs Milliarden Euro, die die EU bis 2018 in die Türkei überweisen soll, seien bisher nur "ein oder zwei Millionen" angekommen. Tatsächlich sind die Gelder nicht für den türkischen Staatshaushalt bestimmt, sondern werden von der EU zur direkten Finanzierung von Hilfsprojekten für die Flüchtlinge verwendet. Nach Angaben aus Brüssel sind dafür inzwischen zwei Milliarden Euro abrufbereit. Ende Juli waren laut EU-Kommission 105 Millionen Euro ausgegeben, weitere 124 Millionen Euro waren verbindlich vertraglich fixiert.

Kann Europa seine Grenzen selbst schützen, wenn die Türkei sie wieder öffnet?

Das ist das Ziel des beschlossenen Ausbaus der Grenzschutzpolizei Frontex zu einer wirksamen Küstenwache. Doch nachdem die EU-Mitgliedstaaten jahrelang eine effiziente EU-Polizei als Eingriff in ihre nationalen Hoheitsrechte ablehnten, kommt die Umsteuerung nun extrem langsam in Gang. Im Herbst soll in einem ersten "Stresstest" ermittelt werden, wozu Frontex in der Lage sein soll. Die Aufstockung des Personals von 350 um deutlich über 1000 Mitarbeiter ist auf Jahre gestreckt und von der freiwilligen Einbringung der Mitgliedstaaten abhängig. Diese werden auf Hunderten von Kilometern Küstenlinie, die etwa in der Ägäis bis auf drei Kilometer heranrücken, wenig bewirken. Vor allem eine Rückführung gegen den Willen der Türkei ist kaum praktikabel. Hier hilft nur die optimierte Kooperation zwischen Ankara und Athen.

Würde es dann also zu einem neuen Massenansturm auf Griechenland kommen?

Die Kapazitäten der Griechen dürften dann auf jeden Fall überfordert sein. Schon die bis zum Frühjahr gekommenen Menschen brachten das Land an den Rand seiner Möglichkeiten. Allerdings hat sich dies und das Risiko, zurückgeschickt zu werden, unter Flüchtlingen und Schleppern herumgesprochen.

Wäre bei Visafreiheit jedem Türken der unbegrenzte Zugang zur EU möglich?

Nein, die EU-Kommission will dies auf "Kurzaufenthalte" für Geschäftsreisen, touristische Aufenthalte oder Familienbesuche von bis zu 90 Tagen beschränken. Zudem behält sich die EU vor, nachzuprüfen, welchen Zweck die Reise hat und ob der Gast genügend Mittel für seinen Unterhalt und die Rückreise hat. Verschiedene EU-Staaten wollen sich zudem vorbehalten, die Visafreiheit bei Missbrauch sofort wieder auszusetzen.

Könnte es weitere Sanktionen der Türkei geben, wenn die Visafreiheit nicht kommt?

Ankara reagierte bereits mit der Einbestellung des deutschen Geschäftsträgers ins Außenministerium. Auch Besuchsmöglichkeiten bei Bundeswehr-Soldaten in der Türkei stehen infrage. Unwahrscheinlich ist jedoch die Visapflicht für Deutsche in der Türkei. Das Land ist vom Tourismus abhängig, schon jetzt bleiben Touristen dem Land wegen der Terrorgefahr fern. Risiken für die Wirtschaft sieht auch die Ratingagentur Standard & Poor's. Sie bezeichnet die Türkei als Hochrisiko-Land und senkte damit die Bonität. Ausschlaggebend seien größere wirtschaftliche, institutionelle und rechtliche Gefahren.

(may-)
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