"Fahr zur Hölle, Gaddafi"

Im Osten Libyens scheint das Regime von Machthaber Muammar al Gaddafi die Kontrolle verloren zu haben. In der Hafenstadt Tobruk stellt sich das Militär auf die Seite der Demonstranten. Auch in Bengasi haben die Anhänger des Diktators nichts mehr zu sagen.

Tobruk (RP) Gewehrsalven, Freudentänze und zahlreiche Menschen, die die bis 1969 gültige Königs-Flagge statt der grünen des Gaddafi-Regimes schwenken – in der libyschen Hafenstadt Tobruk feiern die Gegner des Regimes von Muamar al Gaddafi die Befreiung. Die Herrschaft des Diktators bröckelt – zumindest in Tobruk. Die dort stationierten Soldaten schießen mit Gewehren in die Luft. Das Militär hat sich in der im Osten der Republik liegenden Mittelmeerstadt von Gaddafi losgesagt.

Mit Demonstranten voll besetzte Wagen rollen durch die Straßen der strategisch wichtigen Stadt, in der gut 100 000 Menschen leben. In ihrer Jubelstimmung zerstören die Demonstranten ein Beton-Monument für Gaddafis Grünes Buch, in dem dieser die Grundzüge seiner Herrschaft beschrieben hat. Gaddafi habe die Kontrolle über den gesamten Osten verloren, sagt der einstige Major Hani Saad Mariaa. Bewohner Tobruks erzählen, die Stadt sei schon drei Tage lang in der Hand der Bevölkerung. Die Rebellen kontrollieren die libysche Seite der Grenze zu Ägypten.

Ähnlich lautende Berichte gibt es aus Bengasi, wo der Aufstand vor gut einer Woche begann. Den Einwohnern zufolge ist die zweitgrößte Stadt Libyens in der Hand der Demonstranten. An Hauswände sprühen sie ihre Botschaft: "Nieder mit Gaddafi" und "Genug, genug". Männer in Uniform stehen auf den Hauptstraßen und regeln den Verkehr. Sie sehen keine Treuepflicht mehr für ihren seit mehr als 40 Jahren mit harter Hand regierenden Staatschef. "Lebensmittel sind vorhanden, die Apotheken und die Krankenhäuser haben geöffnet. Alles ist offen. Jeder hat seine Hand ausgestreckt, um zu helfen, Junge und Alte, Männer und Frauen," sagt der 59-jährige Fajes Hussein Mohammed. Im Zentrum finden sich weitere Sprüche an den Mauern: "Fahr zur Hölle, Gaddafi".

Auf dem zentralen Platz verbrennen die Menschen Gaddafi-Bücher. Andere malträtieren ein Bild des Herrschers mit Schlagstöcken. Ein Bewohner hält ein Plakat, auf dem ein Stiefel zu sehen ist, der Gaddafi wegtritt. Bei den Unruhen in der Stadt kamen einem Augenzeugen zufolge vier Menschen ums Leben, 50 wurden verletzt. Im Laufe des Tages gelingt es der türkischen Regierung, 3000 Landsleute per Fähre in Sicherheit zu bringen, nachdem diese in einem Fußballstadion Zuflucht gesucht hatten. Am Nachmittag gibt es Berichte, dass nahe Bengasi ein Kampfflugzeug abgestürzt ist, das Ziele in der Stadt bombardieren sollte. Die Besatzung habe den Befehl verweigert und sich per Schleudersitz in Sicherheit gebracht.

Am Abend versuchte ein libysches Flugzeug, auf der Mittelmeerinsel Malta zu landen. Die Maschine habe zehn Passagiere an Bord gehabt und sei 20 Minuten über der Mittelmeerinsel gekreist, bevor es nach Libyen abgedreht sei, sagte der maltesische Außenminister Melvyn Mangion. Der Pilot habe angegeben, nur noch wenig Treibstoff zu haben. Einheiten der Streitkräfte und des Sicherheitsdienstes hätten die Landebahn dennoch blockiert.

In der Hauptstadt Tripolis scheint Gaddafi weitgehend die Kontrolle zu halten. Die Straßen dort waren gestern menschenleer. "Viele Menschen in Tripolis haben Angst, ihre Häuser zu verlassen", sagte der Tunesier Marwan Mohammed, als er die Grenze zu seiner Heimat überquerte. Bewaffnete Anhänger von Gaddafi zögen umher und bedrohten alle, die sich versammelten.

Unterdessen hat der jüngst zurückgetretene Justizminister ausgesagt, Gaddafi habe persönlich den Flugzeuganschlag über der schottischen Ortschaft Lockerbie befohlen. Das berichtete das schwedische Boulevardblatt "Expressen". Bei dem Anschlag waren 1988 alle 259 Menschen an Bord einer Pan-Am-Maschine sowie elf Menschen am Boden umgekommen. Die Zeitung zitierte Mustafa Abdel Dschalil mit den Worten: "Ich habe Beweise, dass Gaddafi den Befehl zu Lockerbie gegeben hat." Dschalil hat sein Amt als Zeichen des Protests gegen das gewaltsame Vorgehen gegen die Demonstranten niedergelegt. "Expressen" zufolge sagte er, Gaddafi habe Abdel Basset al Megrahi, der später als einziger wegen des Anschlags verurteilt wurde, den Auftrag erteilt. "Um das zu vertuschen, tat er alles in seiner Macht Stehende, um al Megrahi aus Schottland zurückzuholen." Der verurteilte Lockerbie-Attentäter war 2009 aus schottischer Haft nach Libyen entlassen worden. Es hieß damals, er sei wegen Krebs dem Tode nahe. Al Megrahi lebt heute noch.

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(RP)
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