Wie könnte Deutschland im Jahr 2030 aussehen? Experten aus NRW beraten Merkel

Berlin · Wie könnte Deutschland im Jahr 2030 aussehen? Kanzlerin Angela Merkel will es wissen und gründet den "Dialog für Deutschland". Wissenschaftler und Praktiker sammeln Ideen und Konzepte. Ab Februar können die Bürger über eine Internetseite mitdiskutieren. Ein Politik-Experiment.

123 Deutsche dürfen sich seit Sommer vergangenen Jahres "Berater der Bundeskanzlerin" nennen. Inoffiziell zumindest. Sie gehören zu einem Expertenkreis aus Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, mit dem Angela Merkel ein ungewöhnliches Politik-Experiment gestartet hat: Sie will Deutschlands Zukunft skizzieren.

Das Bonmot von Altkanzler Helmut Schmidt — "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen" — stört Adenauers christdemokratische Urenkelin Merkel offenbar nicht. Die Regierungschefin, bislang eher für das nüchterne Abarbeiten anstehender Probleme bekannt, will weg von der Ad-hoc-Politik. Das Kanzleramt soll nicht nur Krisenreaktionszentrum, sondern auch Ideenschmiede sein. Merkel sucht Antworten auf Fragen, die das Leben und Wirken im Deutschland des Jahres 2030 bestimmen könnten. Auf ihre Kabinettsmitglieder und die Ministerialbürokratie verlässt sie sich dabei offenbar nicht. Sie fragt das Volk.

Schon im Sommer 2010 hatte Merkel 123 Experten, darunter 20 aus Nordrhein-Westfalen, zum Gedankenaustausch nach Berlin geladen. Der Auftrag: eine langfristige Strategie zu entwickeln, wie das schrumpfende und alternde Deutschland im weltweiten Wettbewerb mit jungen, dynamischen und ehrgeizigen Regionen seinen Wohlstand halten und gleichzeitig eine lebenswerte Gesellschaft bleiben kann. Im Kanzleramt hatten Strategen da schon "Demografie" als Mega-Thema der Politik ausgemacht. Und die CDU-Kanzlerin will es rechtzeitig besetzen.

Wie wollen wir lernen?

Unter dem Motto "Dialog über Deutschland" wurden dann sechs Arbeitsgruppen eingerichtet, die über drei zentrale Fragen beraten sollten: "Wie wollen wir zusammenleben? Wovon wollen wir leben? Wie wollen wir lernen?" In jeder Gruppe sollte fächerübergreifend diskutiert werden; das Kanzleramt hatte die Experten ausgesucht und bewusst eine bunte Mischung zusammengestellt.

Das interdisziplinäre Denken ist ein Kernanliegen der Naturwissenschaftlerin Angela Merkel. So kümmerte sich beispielsweise der Psychologe und Leiter des Zentrums für Türkeistudien in Essen, Haci Halil Uslucan, unter anderem mit dem Mannheimer Familienrichter Gerd Brudermüller und der früheren Bundesgesundheitsministerin Ursula Lehr um das Thema Zusammenleben der Gesellschaft. Der Philosoph und frühere Fraktionschef der SPD in der frei gewählten DDR-Volkskammer, Richard Schröder, erörterte mit dem gebürtigen US-Amerikaner und Politikwissenschaftler James Davis und dem Chef des Außenhandelsverbands BGA, Anton Börner, das Selbstbild der Deutschen und das Bild der Deutschen im Ausland. Der Aachener Elektrotechniker und Experte für Wissensmanagement Klaus Henning diskutierte mit dem Ökonomen und "Wirtschaftsweisen" Christoph Schmidt (RWI-Institut Essen), dem Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer, und der Klimaexpertin Christa Liedtke über Wohlstand und nachhaltiges Wachstum. Wie die Deutschen künftig arbeiten, war Thema einer Runde, in der unter anderem Gewerkschafts-Chef Michael Vassiliadis und der evangelische Theologe Dieter Zapf zusammensaßen. Der Kölner Raumwissenschaftler Herbert Schubert beriet mit dem Berliner Hauptkommissar Christian Horn darüber, wie Städte sicherer werden können.

Knapp 25 Stunden saß auch Angela Merkel persönlich mit den Vertretern der Arbeitsgruppen zusammen und diskutierte. Abseits der hektischen Euro-Rettungsgipfel und der krisenhaften Koalitionssitzungen sei das eine wohltuende Abwechslung für die Kanzlerin gewesen, wurde im Amt notiert.

Im Sommer sollen die Ergebnisse der Experten-Beratungen in Buchform veröffentlicht und an Merkel übergeben werden. Darin einfließen soll auch die Meinung der "normalen" Bürger. Ab dem 1. Februar schaltet die Bundesregierung die Internetseite "www.dialog-ueber-deutschland.de" frei, auf der Nutzer ihre Visionen, Vorstellungen und Anmerkungen zu den drei Fragen hinterlassen können. Die besten Ideen sollen dem Expertengremium zugeleitet und veröffentlicht werden. Auf drei Diskussionsveranstaltungen nach dem Vorbild der amerikanischen "Townhall"-Meetings will Merkel mit jeweils 100 repräsentativ ausgewählten Bürgern über die Zukunft diskutieren, inklusive Live-Übertragung im Internet. Geplant sind Auftritte in Erfurt (29. Februar), Heidelberg (14. März) und Bielefeld (28. März). Kurz vor der Landtagswahl in Schleswig-Holstein im Mai dürften die Bilder der Kanzlerin im Gespräch mit den Bürgern Merkels Popularität einen Schub geben.

Darum geht es offiziell natürlich nicht, versichert das Kanzleramt. Es sei schließlich Aufgabe der Regierungschefin, "über den Tag hinaus zu denken". Und Angela Merkels ungewöhnliche Volksinitiative soll zudem Eingang in konkrete Politik finden. Sinnvolle Ideen, die mit der schwarz-gelben Regierungsmehrheit umgesetzt werden könnten, sollen gesetzgeberisch angestoßen werden. Die Opposition wird nicht beteiligt.

Vor allem der Start der Internetplattform wird im Kanzleramt mit Spannung erwartet. Man wisse nicht, ob und wie die Plattform angenommen werde, heißt es. Die Sorge, dass auf der neuen Internetseite der Kanzlerin nur krude Thesen, Spott oder — noch viel schlimmer — ausländerfeindliches Gedankengut verbreitet werde, ist groß. Als Merkel vor einiger Zeit per Internetvideo Nutzern Rede und Antwort stand, verlangte die Mehrheit der Fragenden die Freigabe von Haschisch. Man müsse die neuen Kommunikationswege ausprobieren, heißt es nun. Allerdings befristet: Die Internetseite soll nur bis Mitte April online geschaltet sein. Zehn Wochen — so viel Zeit muss für das Sammeln der besten Ideen und Konzepte für die Zukunft Deutschlands reichen.

(RP)
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