Analyse Ewiges Ärgernis Unterrichtsausfall

Düsseldorf · Eine Statistik, wie viele Schulstunden nicht erteilt werden, gibt es in NRW seit 2011 nicht mehr – Ministerium und Rechnungshof streiten um die Methodik. Eine Kompletterfassung koste 15 Minuten pro Tag mehr, sagt ein Schulleiter.

 Eine aktuelle Statistik dazu, wieviel Unterricht in NRW ausfällt, gibt es nicht.

Eine aktuelle Statistik dazu, wieviel Unterricht in NRW ausfällt, gibt es nicht.

Foto: dpa, Caroline Seidel

Eine Statistik, wie viele Schulstunden nicht erteilt werden, gibt es in NRW seit 2011 nicht mehr — Ministerium und Rechnungshof streiten um die Methodik. Eine Kompletterfassung koste 15 Minuten pro Tag mehr, sagt ein Schulleiter.

Wer auf Landesebene Verantwortung in der Bildungspolitik trägt, der weiß: Mit diesem Thema lassen sich schwer Wahlen gewinnen, aber sehr leicht verlieren. Das ist in NRW nicht anders; und deswegen ist es nicht verwunderlich, dass hinter vorgehaltener Hand auch Kabinettsmitglieder die Bildungs-, besonders die Schulpolitik, als "Pulverfass" bezeichnen. Zu den explosivsten Teilen seiner Ladung gehört das Thema Unterrichtsausfall — wenn Stunden gestrichen werden, ist der Zorn der Eltern programmiert. Schlimm genug, lautet die Motivation für den Unmut, wenn der Unterricht nicht so gut erteilt wird, wie es sein sollte — nicht hinnehmbar aber, wenn er gar nicht erteilt wird.

Die Brisanz des Themas erlebt gerade wieder einmal Nordrhein-Westfalens Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne). Ihr sitzen nicht nur die Eltern und natürlich die Opposition im Nacken, sondern auch der Landesrechnungshof. Der fordert seit Jahren eine umfassende Statistik zum Unterrichtsausfall im Land — jede Schule soll erfassen, wie viele Stunden nicht gegeben werden konnten. Zwar erhebt das Schulministerium seit dem Jahr 2001 regelmäßig Ausfalldaten, aber auf der Grundlage von Stichproben (siehe Infobox). Die "Gesamterhebung", die die schwarz-gelbe Landesregierung 2006 in Aussicht stellte, gibt es bis heute nicht.

Denn seit 2011 wird wegen des Methodenstreits überhaupt keine Statistik mehr erstellt. Angesichts der Forderung des Rechnungshofs hat das Ministerium jetzt auf Wunsch des Landtags ein Gutachten der Uni Bochum und der Fachhochschule Nordwestschweiz vorgelegt. Dessen Kernaussage: Eine "flächendeckende und ganzjährige Erhebung des Unterrichtsausfalls" entspräche "einem Aufwand von rund 700 Lehrerstellen jährlich". Das wäre allerdings wohl kaum die "realistische Abbildung des Unterrichtsgeschehens" unter "vertretbarem Aufwand für Schule und Schulaufsicht", die der Ausschuss für Haushaltskontrolle vor gut einem Jahr gefordert hat. Hinter der Formulierung steht die Befürchtung, sonst könnte der absurde Effekt eintreten, dass die penible Erfassung des Unterrichtsausfalls so viel Arbeitszeit verschlingt, dass weiterer Unterricht ausfällt.

Auch die Erfassung an jeder Schule einmal jährlich für zwei Wochen sei zu aufwendig, heißt es im Gutachten. Einzig die bisher praktizierte Stichproben-Variante sei "einigermaßen akzeptabel". Die aber mag der Landesrechnungshof nicht — und deshalb bleibt vorerst das Ausmaß des Unterrichtsausfalls, was es seit Jahren ist: ein Mysterium.

In diesem Mysterium verknäulen sich mathematische Klippen mit politischen Interessen (hohe Ausfallzahlen sind schlecht fürs Regierungsimage) und organisatorischen Problemen. Wer genauer hinschaut, stellt fest: Auch beim Unterrichtsausfall hat die Verkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre (G 8) ihre Auswirkungen gehabt; G 8-Schulen sind besonders nachhaltig betroffen.

Zum Beispiel das Gymnasium am Moltkeplatz in Krefeld — mit rund 750 Schülern, 51 Lehrern und neun Referendaren liegt es unter der Durchschnittsgröße; die Lehrerversorgung ist derzeit recht gut, weil den Gymnasien im Land der Stellenüberhang, der durch den Wegfall eines Schuljahres entsteht, vorerst bleibt. Trotzdem sind bereits hier die Probleme vielfältig. "Seit der Einführung von G 8 ist die Sensibilität gegenüber dem Thema gewachsen", sagt Schulleiter Rolf Neumann, "weil die Eltern den Ausfall auch nur einer Stunde jetzt viel stärker als Schaden in der Ausbildung ihrer Kinder wahrnehmen." Diese Wahrnehmung und Druck aus Düsseldorf hätten zu einem eigenen Vertretungskonzept geführt — "aus der Not geboren", sagt Neumann. So würden etwa erkrankte Lehrer gebeten, passendes Unterrichtsmaterial für eine Vertretungsstunde zu mailen, damit ihre Klasse im Stoff weitermachen kann; falls das nicht geht, halte das Moltke eigenes Material vor.

Aber Ausfall ist nicht gleich Ausfall. Für langfristige Lücken, zum Beispiel durch schwere Krankheit, bietet das Online-Portal "Vertretungseinstellung nach Angebot" ("Verena") die Möglichkeit, nach Fächern und Wochenstunden Vertretungsstellen auszuschreiben — "aber bis ich darüber jemanden gefunden habe, dauert es oft vier Wochen, und dann lohnt es sich vielleicht schon nicht mehr", sagt Neumann. Stattdessen vertraut der Schulleiter eher auf informelle Kanäle: aufbewahrte Initiativ-Bewerbungen, Auskünfte von Kollegen, Nachfragen im örtlichen Zentrum für Lehrerausbildung. Akuten Ausfall (wenn also morgens eine Krankmeldung eintrifft) muss der Vertretungsplan kompensieren — im Zweifelsfall mittels Mehrarbeit der Kollegen.

In Mangelfächern wie Physik oder Latein sind Vertretungen zudem schwerer zu organisieren. Im Ergebnis, sagt Neumann, sei aber die Quote inzwischen gut: "80 Prozent der Stunden, für die der Lehrer ausfällt, werden vertreten." Eine niedrigere Zahl nannte der Landesrechnungshof 2011 für seine Stichprobe: Zwar habe "ein Großteil der Planabweichungen durch Vertretungsregelungen aufgefangen werden" können — die Rede war aber von 50 Prozent Vertretung und 50 Prozent Ausfall.

Und die Erfassung des Ausfalls? Langfristige Lücken, sagt Schulleiter Rolf Neumann, seien aus den Pflichtangaben für die Bezirksregierung problemlos zu berechnen. "Der kurzfristige Ausfall aber wird nicht statistisch erfasst." Würde sich ein Kollege darum kümmern, schätzt Neumann, würde den das 15 Minuten pro Tag kosten — "durchaus aufwendig, aber es ginge". An größeren Schulen wäre der Aufwand entsprechend höher. Peter Silbernagel, Chef des Philologenverbands NRW, hält eine Totalerfassung nicht für sinnvoll: "Das würde die Schulen zu Manipulationen verleiten. Zwischenlösungen müssen möglich sein."

(RP)
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