Athen Europas neue Auswanderer

Athen · Hunderttausende Griechen verlassen ihre Heimat, weil sie dort keine Zukunft sehen. Das Land verliert ausgerechnet seine Talente.

"Das werde ich vermissen", sagt Alexandros und sieht sich um. Wir sitzen in einem Straßencafé an der Athener Platia Mavili. Die Menschen genießen plaudernd den Herbstabend. Die untergehende Sonne schickt ihre Strahlen durch das dichte Laub der Bäume. "Das war wohl vorerst mein letzter griechischer Sommer", sagt Alexandros mit etwas Wehmut. Er will auswandern. Seit sechs Monaten lernen seine Frau und er Deutsch an einer Abendschule. Im Internet sucht er nach Jobangeboten. "Deutschland, Österreich, Schweiz, gern auch ein Benelux-Land", sagt Alexandros, "Hauptsache weg."

Der 38-Jährige ist kein Versager. Er hat einen gut bezahlten Job im gehobenen Management eines der größten griechischen Unternehmen. Auch seine Frau hat einen sicheren Arbeitsplatz bei der Athener Niederlassung eines internationalen Konzerns. "Wir gehen nicht aus Not", erklärt Alexandros, "sondern weil wir in Griechenland keine Zukunft sehen - nicht für uns, und nicht für unsere Kinder." Alexandros hat mit seiner Frau zwei Töchter, dreieinhalb Jahre und fünf Monate alt. Seinen vollen Namen will er nicht nennen. "Mein Arbeitgeber soll nicht aus der Presse erfahren, dass ich weg will", erklärt er.

Seit Beginn der Finanzkrise 2009 hat Griechenland ein Viertel seiner Wirtschaftskraft verloren. Was aber langfristig viel schwerer wiegt: Hunderttausende Griechen wanderten aus. Zwar hat Griechenland eine lange Auswanderertradition. Anfang des 20. Jahrhunderts suchten Hunderttausende ein besseres Leben in Nord- und Südamerika, Australien und Südafrika. In den 1960er und 70er Jahren wanderten mehr als eine Million Griechen in andere europäische Länder aus, um am Fließband und im Bergbau zu arbeiten. Aber während es damals vor allem ungelernte Arbeitskräfte aus den armen Dörfern Nordgriechenlands waren, die ins Ausland gingen, verliert das Land jetzt seine besten Talente.

Eine Studie der griechischen Zentralbank zeigt das Ausmaß der Massenflucht. Zwischen 2008 und 2014 haben 427.000 Griechen ihrem Land den Rücken gekehrt - überwiegend Akademiker, Fachkräfte und hochqualifizierte Manager. Nach Angaben der Athener Ärztekammer haben in den vergangenen zehn Jahren mehr als 11.000 griechische Mediziner ihr Land verlassen. Mit dem Wahlsieg des Linkssozialisten Alexis Tsipras Anfang 2015 und dem Rückfall der griechischen Wirtschaft in die Rezession verstärkte sich die Auswanderungswelle noch einmal. Beliebtestes Ziel ist Deutschland mit fast 160.000 griechischen Einwanderern seit Beginn der Krise.

Eine von ihnen ist Stella Parissi. Vor drei Jahren hat sie ihre Heimatstadt Thessaloniki verlassen. "Der Mangel an beruflichen Chancen, die Vetternwirtschaft und die schlechten wirtschaftlichen Aussichten des Landes waren die Hauptgründe", erzählt die Griechin. "Ich war damals 30 und schämte mich, in diesem Alter immer noch nicht für mich selbst sorgen zu können, sondern meinen Eltern auf der Tasche zu liegen." Jetzt arbeitet Stella als Informatikerin an der Universität Oldenburg. Die Griechin fühlte sich in Deutschland von Anfang an akzeptiert: "Alle waren freundlich und sehr hilfsbereit", erzählt Stella. An manches in Deutschland kann sie sich aber auch nach drei Jahren nicht gewöhnen: "Zum Beispiel an leere Straßen an einem Sonntagabend im Sommer ..." Griechenland vermisse sie "jeden Tag", sagt Stella. "Die Wärme der Menschen, die Spontanität des Lebens, das Essen, das Meer" - das alles fehlt der jungen Frau. "Eines Tages werde ich zurückkehren", sagt sie, "wenn die Verhältnisse in Griechenland es zulassen ..."

Chryssoula K. lebt seit vier Jahren mit ihrem Mann und zwei kleinen Söhnen in München. Auch für sie war die Krise der Hauptgrund, ihre Heimat zu verlassen: "Wenn die Situation in Griechenland super wäre, hätten wir diesen Schritt sicher nicht getan", sagt die junge Frau. Sie und ihr Mann haben gut bezahlte Jobs bei multinationalen Firmen. "Die meisten Deutschen, mit denen wir zu tun haben, mögen Griechenland und verstehen, dass die Situation dort sehr schwierig ist", erzählt Chryssoula. Die Familie ist gut angekommen und fühlt sich akzeptiert. An eine Rückkehr denkt das Ehepaar derzeit nicht. "Aber es wäre eine Lüge, dass wir Griechenland nicht vermissen", sagt Chryssoula. "Auch wenn wir uns in München wohlfühlen, ist Griechenland für uns doch das eigentliche Zuhause."

"Die neuen griechischen Auswanderer sind zwar sehr anpassungsfähig, sie haben meist gute Fremdsprachenkenntnisse und ein hohes Bildungsniveau, was ihnen die Integration erleichtert, aber zugleich bleiben sie ihrem Land emotional sehr eng verbunden", sagt Nikos Stampoulopoulos. Der 47-Jährige ist selbst 2009 angesichts der beginnenden Krise nach Amsterdam ausgewandert. Ende 2014 kehrte der Filmemacher nach Athen zurück und betreibt jetzt die Internetseite Nea Diaspora. "Wir geben ausgewanderten Griechen die Möglichkeit, sich zu vernetzen und auszutauschen, wir geben ihnen eine Stimme", sagt Nikos. Die Nea Diaspora versteht er als ein Forum, "wo jeder seine Geschichte erzählen, Informationen austauschen und seine Videos hochladen kann".

Auf die Idee kam er in Amsterdam. "Nach 2010 kamen immer mehr Griechen, um sich dort niederzulassen, jede Woche sah man neue Gesichter, und jeder Neuankömmling hatte viele Fragen", erinnert sich Nikos. So entstand das Netzwerk Nea Diaspora. Die meisten Auswanderer, die er in den Krisenjahren in Amsterdam kennenlernte, hatten einen Hochschulabschluss, nicht wenige gaben gut bezahlte und sichere Jobs auf, um ins Ausland zu gehen. "Die meisten sind nicht vor Armut oder Arbeitslosigkeit geflohen, sondern vor dem 'System Griechenland', vor der Vetternwirtschaft und der Korruption, der Bürokratie, dem politischen Stillstand und der gesellschaftlichen Apathie", erklärt Nikos.

Die Regierung spielt das Problem herunter. Wirtschaftsminister Dimitris Papadimitriou hält die von der griechischen Zentralbank und den anderen Organisationen genannten Zahlen für viel zu hoch gegriffen. Nicht bis zu 500.000 seien ausgewandert, sondern höchstens 120.000, sagte der Minister. Dabei hätten die Politiker allen Grund, das Thema ernst zu nehmen.

"Neben der Armut ist die Auswanderung die gravierendste Folge der Krise", sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin Sofia Lazaretou, Verfasserin der Migrations-Studie der griechischen Zentralbank. Für Griechenland ist die neue Auswanderungswelle ein teurer Aderlass. Die Ausbildung eines Arztes kostet den Staat rund 100.000 Euro, die eines Ingenieurs mehr als 50.000 Euro. Dieses Geld ist verloren, wenn die Akademiker nach ihrer Ausbildung ins Ausland gehen. Die Nichtregierungsorganisation Endeavor Greece schätzt, dass die griechischen Migranten in ihren Gastländern jährlich 12,9 Milliarden Euro zur Wirtschaftsleistung beitragen. Griechenland verliert also nicht nur seine besten Talente - sondern auch sehr viel Geld.

Nikos Stampoulopoulos hat auch dieses Problem im Blick. Er will mit seiner Webseite Nea Diaspora auch jenen Auswanderern eine Plattform bieten, die an eine Rückkehr nach Griechenland denken. "Viele wollen zurück, aber dafür muss sich Griechenland erst einmal ändern", sagt Nikos Stampoulopoulos. "Das Fatale ist nur: Bisher gehen genau jene weg, die diesen Wandel in der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft herbeiführen könnten."

(RP)
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