Analyse Europa versagt bei Flüchtlingen

Berlin · Die Kanzlerin mahnt ein gemeinsames europäisches Vorgehen in der Flüchtlingsfrage an. Doch wenn die Deutschen nicht die Initiative ergreifen, wird es beim Wegducken vor der Verantwortung in Europa bleiben.

Wo die Flüchtlingsrouten aus Afrika, Syrien, Irak und Afghanistan enden, herrscht in Europa Chaos. Auf der griechischen Insel Kos und dem italienischen Lampedusa spielen sich immer wieder menschenunwürdige Szenen ab. Die Europäische Gemeinschaft ist zu einem gemeinsamen Kraftakt in der Flüchtlingsfrage aber nicht in der Lage.

Kanzlerin Angela Merkel hat eine europäische Lösung angemahnt. Doch dafür werden wohl die Deutschen die Initiative ergreifen müssen. Die Kanzlerin verdeutlichte die Dimension des Problems, als sie am Wochenende im ZDF erklärte, dass der Umgang mit der großen Zahl von Flüchtlingen die EU in Zukunft mehr beschäftigen werde als Griechenland und die Stabilität des Euro.

Aber anders als beim Euro gibt es bei der Flüchtlingsproblematik keine festen Termine, bis zu denen Lösungen gefunden werden müssen. Es gibt auch keine starke Lobby für die Flüchtlinge, wie es die griechische Regierung für Griechenland ist. Einzig die Bilder und Berichte aus den teils völlig überfüllten Erstaufnahmeeinrichtungen in vielen Teilen Europas erzeugen Druck. Und so gab es erst im April ein eilig einberufenes Gipfeltreffen, als immer neue Todesopfer von den Flüchtlingsrouten im Mittelmeer gemeldet wurden.

"Wir müssen in Europa klarmachen, dass wir das Flüchtlingsthema nur gemeinsam regeln können", sagt SPD-Fraktionsvize Axel Schäfer. National im Alleingang werde dies den Staaten nicht gelingen, betont er mit Verweis auf den Kampf der Briten gegen Flüchtlinge, die über den Eurotunnel nach Großbritannien gelangen. Die Liste von Punkten, an denen die EU ansetzen muss, ist lang. Hier eine Auswahl:

Gemeinsame Standards für die Anerkennung von Flüchtlingen

Auf der griechischen Insel Kos wird derzeit offenbar, wie stark die Anerkennung von Flüchtlingen in der EU schwankt. Während Deutschland etwa viele Iraker als Kriegsflüchtlinge anerkennt, gelten sie in Griechenland als Migranten. Syrische Flüchtlinge hingegen bekommen fast überall in der EU Asylschutz. Völlig anders Migranten vom Westbalkan: 2014 lag die Anerkennungsquote ihrer Anträge im europäischen Schnitt bei 45 Prozent. In Deutschland werden aber nur weniger als ein Prozent der Erstanträge positiv beschieden.

Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten

Eine Erweiterung der Liste sicherer Herkunftsstaaten könnte in Deutschland zu beschleunigten Asylverfahren führen, sagen Befürworter. Was aber hierzulande schon für heftige innenpolitische Debatten sorgt, ist in der EU ein ungleich dickeres Brett. Zwar mehren sich auch in den Nachbarstaaten die Stimmen, dass Länder des Westbalkans, die einerseits EU-Beitrittskandidaten sind, andererseits nicht als unsichere Herkunftsstaaten gelten können. Aber die EU-Staaten sind weit davon entfernt, eine gemeinsame Liste zu haben. 2013 hatte es zuletzt Korrekturen an der europäischen Asylverfahrensrichtlinie gegeben, die zumindest Minimalkriterien festlegt, nach denen ein Land als sicher zu erklären sei. Versuche, eine Liste zu etablieren, scheiterten an nationalen Interessen.

Gemeinsame Standards für die Versorgung von Flüchtlingen Angesichts des starken Wohlstandsgefälles zwischen den EU-Staaten ist es nicht gelungen, vergleichbare Versorgungsstandards zu finden. Auch deshalb mehren sich im konservativen Lager in Deutschland Stimmen, die eine Absenkung der Versorgung fordern, um die Bundesrepublik weniger attraktiv für Flüchtlinge zu machen. Das wird jedoch scharf kritisiert. Die Aufnahmerichtlinie der EU nennt unterdessen Normen für die menschenwürdige Aufnahme von Asylsuchenden. Schlaf- und Wohnraum, Lebensmittel, Kleidung und finanzielle Hilfe gehören dazu, ebenso eine angemessene Gesundheitsversorgung. Doch bei Verstößen, die etwa aus Ungarn bekannt sind, kann kaum reagiert werden.

Gerechte Quote für die Verteilung von Flüchtlingen in der EU

Einer der größten Streitpunkte zwischen den EU-Staaten ist die gerechte Verteilung der Flüchtlingsströme. Verhandlungen über eine Quote misslingen immer wieder. Das Dublin-System, wonach das EU-Land, in dem der Flüchtling zuerst ankommt, auch das Asylverfahren abwickeln soll, funktioniert nicht. Wissenschaftler vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration haben exemplarisch ein Quotensystem für die Jahre 2009 bis 2013 ausgerechnet. Demnach hat Deutschland, bezogen auf diese Jahre, 18 Prozent mehr Asylbewerber aufgenommen, als es gemusst hätte. Griechenland kam auf 75 Prozent mehr, Schweden sogar auf 275 Prozent. Zuletzt hatten sich die EU-Staaten zumindest geeinigt, dass 40 000 Migranten aus Italien und Griechenland auf andere Mitgliedsländer verteilt werden. Die Regelung ist jedoch freiwillig und nur ein Tropfen auf den heißen Stein. "Die Vorstellung, dass Brüssel Quoten auferlegen könnte, funktioniert nicht", hieß es dazu von einem hochrangigen EU-Diplomaten.

Bekämpfung der Schlepper und der Fluchtursachen

Das ist die wohl schwierigste Aufgabe. Wer die Ursachen von Flucht angehen will, muss sich vor allem für ein Ende der Kriege in Syrien, Afghanistan und im Irak einsetzen. Auch die Entwicklungshilfe etwa in afrikanischen Staaten hängt damit zusammen. Weil es dafür in Europa aber keine gemeinsame Linie gibt, bleibt es bisher bei wohlfeilen Appellen. Der Kampf gegen Schlepper wurde zumindest bei dem Seenotrettungsprogramm Triton einbezogen. So sollen Schlepperboote nach der Evakuierung versenkt werden können. Die Wirkung ist jedoch umstritten. Und auf dem Landweg bleiben den Behörden oft nur verstärkte Kontrollen, etwa von Minibussen auf der Autobahn. Ungarn indes erntete für den Bau eines kilometerlangen Abwehrzauns scharfe Kritik. Nationale Abschottung statt gemeinsamer Politik herrscht also vor.

(jd / qua)
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