Europa in der Sinnkrise

Die Gemeinschaft kämpft zunehmend mit dem Image, nur noch eine Schulden-Union zu sein, die Wohlstand bedroht statt zu mehren. Experten sagen bereits: Europa stand noch nie so nah vorm Scheitern.

Brüssel Es war ein perfekter Tag für "Miss Europa": Sogar die Berliner Frühlings-Sonne spielte mit – und fiel gerade so durch das Glasdach des Schlüterhofs, dass ihre Strahlen wie ein Heiligenschein über Angela Merkel hingen. Die Kanzlerin hatte im März 2007 als amtierende Ratspräsidentin die EU-Chefs in Berlin versammelt, um Europa zum 50. Geburtstag auf eine neue Grundlage einzuschwören: den Vertrag von Lissabon. Sie beendete beherzt und gefeiert die Dauer-Krise nach dem Scheitern der EU-Verfassung. "Wir sind zu unserem Glück vereint", hieß der Kernsatz der Berliner Erklärung.

Fünf Jahre später scheint von dieser Aufbruchstimmung wenig übrig. Aus der Schicksalsgemeinschaft Europa ist für viele Menschen eine Schulden-Union geworden, die Wohlstand bedroht statt zu mehren. Der Kitt bröckelt – zwischen den Völkern und ihren Politikern. Regierungen sind reihenweise in der Krise über "Europa" gestürzt. Kein Tag vergeht, an dem die Kanzlerin nicht irgendwo in eine Nazi-Uniform gesteckt wird. Deutschlands Spar-Diktat sei "Krieg" mit anderen Mitteln, heißt es in Athen. Das Image der Deutschen ist derart angekratzt, dass das Auswärtige Amt ein Kommunikationskonzept aufgelegt hat, um den EU-Partnern "Ängste vor deutschen Alleingängen und Hegemonie-Bestrebungen" zu nehmen.

In den stabilitätsorientierten Nordländern wächst der Unwillen, für die Misswirtschaft von Griechen und Co. einzustehen. Laut Emnid wollen nur noch 33 Prozent der Deutschen Athen mit neuen Milliarden helfen. Sogar der Austritt eines Landes aus der Währungsunion – und damit auch der EU – ist kein Tabu mehr. "Europa steckt in seiner bisher größten Krise, stand noch nie so nah am Scheitern", sagt Paul Welfens, Wirtschafts-Professor an der Uni Wuppertal und Autor des Buches "Euro am Abgrund?".

In der Tat geht es um mehr als den Erhalt der Währungsunion und ihrer ökonomischen Vorteile für das Exportland Deutschland. Versagen die EU-Staaten bei der Stabilisierung des Euro, haben sie auch auf der Weltbühne Glaubwürdigkeit verspielt – als bestaunter Erfolgs-Verbund für Frieden, Freiheit, Wohlstand und Stabilität. "Das Bollwerk gegen die moralische, politische und wirtschaftliche Selbstmarginalisation Europas ist die Union", warnt Klaus Hänsch, ehemaliger Präsident des Europaparlaments. "Entweder zeigt Europa der Welt, wie relevant es (noch) für sie ist, oder die Welt wird Europa zeigen, wie irrelevant es für sie (schon) ist."

Das Problem: Die akute Krisen-Lösung drängt die Arbeit an der mangelnden Zukunftsfähigkeit der EU in den Hintergrund. Der von Angela Merkel gerettete Lissabon-Vertrag hat sich längst als unzureichende Flickschusterei erwiesen. "Wenn wir in den nächsten Jahren nicht den Quantensprung in die politische Union schaffen, wird die EU sich in eine global bedeutungslose Freihandelszone zurückentwickeln", prophezeit Buchautor Welfens. Und Deutsche-Bank-Vorstandschef Josef Ackermann warnt: "Jeder Rückschritt bei der europäischen Integration kostet ein Mehrfaches dessen, was heute für die Bewahrung der EU und des Euro in Rede steht."

Angela Merkel muss nun vollenden, was ihr einstiger Ziehvater Helmut Kohl nicht geschafft hat: Die gemeinsame Wirtschaftspolitik. Der für eine politische Union nötige Souveränitätsverlust der Nationalstaaten war damals nicht durchsetzbar. Der Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin und verpflichtende Schuldenbremsen ist der Versuch, den Geburtsfehler des Euro auszumerzen. Doch Großbritannien und Tschechien bleiben außen vor – Europa marschiert in mehreren Geschwindigkeiten voran.

Zudem stellt sich die Frage, ob das Getrippele reicht – oder vielmehr ein beherzter Schritt nach vorn nötig ist. "Die Vorstellung, in einer Währungsunion könne die Politik national bleiben und bedürfe nur einer losen Koordination, ist endgültig als Fiktion entlarvt worden", schreibt Josef Ackermann in einem Zeitungsbeitrag. Er hält die Übertragung weiterer Souveränitätsrechte auf die europäische Ebene für unumgänglich. Auch in der EU-Kommission denkt man gerne groß. Noch in diesem Jahrzehnt müsse es so viel mehr Europa geben, dass Deutschland zur Anpassung des Grundgesetzes gezwungen sei und der Bundestag zu einer Art Landtag schrumpfe, heißt es von einem Schwergewicht, der den Staat bestens kennt, von dem er redet.

Fragt sich, ob Europa genug Politiker hat, die das Nötige auch auf Kosten der eigenen Macht ermöglichen wollen. Vor allem aber fehlt es an der Fähigkeit, die Herzen der Bürger für den Ausbau der Schicksalsgemeinschaft zu gewinnen. Dafür ist mehr Demokratie unerlässlich – etwa durch einen gewählten Präsidenten. Sogar Angela Merkel wird Interesse nachgesagt, in dieser neuen EU ganz oben Strippen zu ziehen. Durch die Krise hat die Ostdeutsche mehr als andere begriffen, dass ein weiteres Zusammenwachsen der Gemeinschaft "alternativlos" ist. Frei nach dem Motto: "Wir sind zu unserem Glück vereint."

(RP)
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