Flüchtlinge Was hat der EU-Gipfel gebracht?

Berlin · Die Türkei hat den 28 EU-Staaten ein Angebot zur möglichen Lösung der Flüchtlingskrise unterbreitet. Die wichtigsten zehn Fragen.

So soll der EU-Deal mit der Türkei aussehen
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So soll der EU-Deal mit der Türkei aussehen

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Foto: dapd, Oliver Lang

Nach dem Brüsseler EU-Türkei-Gipfel sind die Interpretationen höchst gegensätzlich. Von einem "ganz, ganz großen Fortschritt" und einem "Erfolg für Europa" spricht Unions-Vize Thomas Strobl, der im Endspurt des CDU-Wahlkampfes in Baden-Württemberg steckt. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hingegen fürchtet, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Uneinigkeit der Europäer für seine Zwecke ausnutzen könne. Die vorläufige Vereinbarung könnte man "nicht als Durchbruch feiern". Wir beleuchten die wichtigsten zehn Fragen.

Was sind die Ergebnisse des EU-Türkei-Gipfels?

Erst einmal keine belastbaren Beschlüsse, weil die 28 Staats- und Regierungschefs vom neuen Vorschlag des türkischen Regierungschefs Ahmet Davutoglu überrascht wurden. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete den Aktionsplan als "Durchbruch, wenn er realisiert wird". Andere Regierungschefs wie der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras und Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann zeigten sich skeptisch. Die EU will nun beim nächsten Gipfel Ende nächster Woche entscheiden, ob sie sich darauf einlässt. Für Merkel liegt die neue Qualität des türkischen Angebots darin, dass sich Ankara nunmehr bereit erklärt, nicht nur Bootsflüchtlinge ohne Asylgrund etwa aus Nordafrika wieder bei sich aufzunehmen, sondern "alle neuen irregulären Migranten", also auch Flüchtlinge aus Syrien.

Was genau will die Türkei?

Ankara schwebt eine Lösung nach einer "Eins-zu-Eins-Formel" vor: Für jeden Flüchtling ohne Bleibeperspektive, den die EU in die Türkei zurückschickt, will die Türkei einen anderen Flüchtling mit Bleibeperspektive an die EU abgeben. Es obliegt der EU, zu entscheiden, wie sie die Kontingente "legaler Migranten" auf ihre Mitgliedsländer verteilt. Im Gegenzug fordert die Türkei zusätzlich zu den bereits zugesagten drei Milliarden Euro für die Versorgung der in der Türkei lebenden 2,8 Millionen Flüchtlinge bis 2018 weitere drei Milliarden Euro. Zudem soll die EU die Visafreiheit für Türken bereits Ende Juni einführen. Außerdem will Ankara Fortschritte bei den EU-Beitrittsverhandlungen.

Wie reagiert die EU darauf?

Unterschiedlich. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Europaparlamentschef Martin Schulz, Gipfelchef Donald Tusk, Frankreichs Präsident François Hollande und Großbritanniens Premier David Cameron sowie führende Koalitionspolitiker in Berlin bezeichneten den Gipfel als Fortschritt. Doch Ungarns Regierungschef Viktor Orbán erteilte dem Plan eine Absage, Flüchtlinge direkt aus der Türkei nach Europa zu bringen und auf die EU-Staaten zu verteilen. Gegen solche Kontingent-Absprachen klagt Ungarn beim Europäischen Gerichtshof. Ähnlich äußerte sich Polen. Orbán ist auch dagegen, Türken schnell von der Visapflicht zu befreien. Auch Hollande ist in diesem Punkt kritisch.

Wie könnte das Konzept wirken? Das türkische Konzept zielt darauf, auch syrische Flüchtlinge von der Flucht nach Griechenland abzuhalten und Schleppern das Handwerk zu legen. "Denn diejenigen, die die griechischen Inseln illegal erreichen, werden mit Sicherheit nicht zu denjenigen gehören, die als Erste umgesiedelt werden, sondern bestenfalls am Ende der Schlange stehen und wahrscheinlich überhaupt keine Chance auf Umsiedlung bekommen", sagte Merkel.

Was wird aus Europas Binnengrenzen?

Bis zum nächsten Gipfel soll die EU-Kommission weitere Details ausarbeiten, wie die nach dem Schengen-Vertrag vorgeschriebenen offenen Binnengrenzen bis zum Jahresende wieder funktionieren können. Das soll einhergehen mit einem erweiterten Dublin-Übereinkommen, nach dem Asylverfahren dort laufen, wo Flüchtlinge erstmals EU-Boden betreten. Merkel betonte, auch in Zukunft dürfe sich niemand sein Asyl-Land aussuchen.

Ist die Balkanroute nun offen oder geschlossen?

Entgegen der vorbereiteten Gipfelerklärung wird die Balkanroute nicht als geschlossen bezeichnet, obwohl sie de facto für die große Mehrheit der an der griechisch-mazedonischen Grenze festsitzenden Flüchtlinge dicht ist. "Irreguläre Ströme von Migranten entlang der Route des westlichen Balkans müssen nun enden", heißt es jetzt stattdessen in der Erklärung. Vor allem Deutschland und Griechenland hatten sich gegen den Textvorschlag gewandt. "Da wird nichts geschlossen", betonte Merkel, und kritisierte, dass der bewirkte "Stillstand" negative Auswirkungen auf Griechenland habe.

Was soll jetzt aus Griechenland werden? Ein Hilfsprogramm der EU enthält 700 Millionen Euro Unterstützung für Athen. Die Gemeinschaft will Griechenland auch dabei helfen, so bald wie möglich alle ankommenden Asylbewerber ordnungsgemäß zu registrieren. Noch unklar ist, wie sich das neue Konzept der Türkei auswirkt. Wenn tatsächlich sämtliche illegal von der Türkei auf die Insel Einreisenden umgehend zurückgeschickt werden und daraufhin keiner mehr kommt, werden auch die Hotspots und Unterkünfte überflüssig. Aber: Nimmt die EU nicht entsprechend viele legal auf, kann Griechenland auch nicht alle illegal Ankommenden zurücksenden. Dann bleibt es bei einer Überforderung des Landes.

Ist Merkel ihrem Ziel nähergekommen? Theoretisch ja. Sie kann auf ein Konzept verweisen, das die ungesteuerte illegale Einreise durch ein geordnetes Verfahren ersetzt, die Binnengrenzen offen hält, die Außengrenzen schließt und den Schleppern in der Ägäis das Handwerk legt. Doch wenn die meisten anderen Staaten nicht mitziehen und im Sommer die Schlepper die Mittelmeerroute wieder stärker nutzen, wo jetzt angeblich schon Hunderttausende auf besseres Wetter warten, um nach Italien zu kommen, ist wenig gewonnen.

Wie sehen die aktuellen Flüchtlingszahlen aus?

Im Januar registrierten die deutschen Behörden im Schnitt täglich knapp 3000 Flüchtlinge (insgesamt 91.671), im Februar gut 2100 (insgesamt 61.428). Seit auf der Balkanroute nur noch wenige Menschen durchgelassen werden, kommen an den bayerischen Grenzen täglich weniger als 500 Flüchtlinge an. Bliebe es bei den Januar-Zahlen, hätte sich Deutschland erneut auf 1,1 Millionen im Jahr 2016 einzustellen, bliebe es bei den März-Zahlen, wären es unter 400.000.

Was bedeutet der Gipfel für die Landtagswahlen am 13. März?

Für Angela Merkel und die CDU brachte der Gipfel keinen eindeutigen Fortschritt, der dem Wähler als klare europäische Lösung präsentiert werden könnte. Deshalb dürfte die AfD wie bei der Kommunalwahl in Hessen am vergangenen Wochenende auch am Sonntag in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt zweistellige Ergebnisse erzielen. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) reagierte auf den Gipfel mit einer Mischung aus Lob und Kritik. "Der Gipfel war ein wichtiger Schritt zur Wiederherstellung geordneter Verhältnisse", sagte Haseloff. "Gerade bei der notwendigen Kontrolle der Balkanroute und der Rückführung illegal in die EU eingereister Flüchtlinge zurück in die Türkei besteht Handlungsbedarf." Er hoffe, dass es bis Mitte März eine Verständigung gebe. "Andererseits sind die Lösung der Flüchtlingskrise und die Beziehungen der Türkei zur EU zwei Paar Schuhe. Wir müssen darauf achten, dass der Preis, den die Türkei fordert, nicht zu hoch ist", wandte er ein.

(mar/may)
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