Wahlanalyse in Brüssel Warum die Esten sich hinter Kaja Kallas scharen

Brüssel/Tallinn · Nicht nur als Auftakt einer Serie wichtiger Wahlen in der EU richteten sich die Augen mit Besorgnis auf das Baltikum. In Estland stand auch der Kurs der EU in Sachen Russlands Angriffskrieg und massive westliche Unterstützung zur Abstimmung. Entsprechend groß ist die Erleichterung über den Wahlsieg von Kaja Kallas.

 Kaja Kallas mit Anhängerinnen und Anhängern in der Wahlnacht in Tallinn.

Kaja Kallas mit Anhängerinnen und Anhängern in der Wahlnacht in Tallinn.

Foto: AP/Sergei Grits

Wenn eine knappe Million Esten zu den Wahlurnen gerufen sind, wird das in den übrigen EU-Staaten gewöhnlich beiläufig zur Kenntnis genommen. Bei der Wahl an diesem Sonntag jedoch stand Europas Kurs in Russlands Kriegszeiten zur Abstimmung – und das in einem Land, in dem jeder vierte Wahlberechtigte russischstämmig ist, in dem die knallharte Positionierung von Regierungschefin Kaja Kallas und die galoppierende Inflation die beiden zentralen Wahlkampfthemen bildeten – und Populisten somit leichtes Spiel zu haben schienen. Wie groß das Interesse an dem Ergebnis ist, merkte Friedrich von Heusinger, Chef der hessischen Landesvertretung in Brüssel, am Montag, als er eiligst Stuhlreihe um Stuhlreihe zusätzlich zur Wahlanalyse herankarren lassen musste. Denn es ging um mehr als Estland, es ging auch um die EU. Und die hatte zur Abwechslung mal haushoch gewonnen.

Nach den jüngsten Hochrechnungen kann Amtsinhaberin Kallas mit ihrer liberalen, proeuropäischen Reformpartei mehr als zwei Prozentpunkte zulegen und mit nun 31,2 Prozent gestärkt in Koalitionsverhandlungen gehen. Auch die zweite europafreundliche, wirtschafts- und sozialliberale Partei Eesti 200 katapultierte sich mit plus neun Prozentpunkten nicht nur sauber ins Parlament, nachdem sie vor vier Jahren noch an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war, sondern möglicherweise auch direkt in die Regierung. Denn Kallas’ bisherige Regierungspartner – Zentrumspartei (minus 8,9 Prozent) und Konservative Partei (minus 3,2 Prozent) – mussten schwer Federn lassen.

Die eigentliche Überraschung ist das Ergebnis für die Rechtspopulisten. Sie wurden zwar erneut zweitstäürkste Kraft, sackten jedoch um 1,7 Punkte auf 16,1 Prozent ab, obwohl sie ordentlich hatten zulegen wollen. Die Kritik am vorbehaltlosen Unterstützungskurs für die Ukraine verfing offenbar weit weniger als erwartet. Dabei war in dem Land, in dem jeder Vierte Russisch spricht, das Kallas-Manöver als äußerst gewagt empfunden worden, die Grenzen für Touristen aus Russland zu schließen. Kein Land unterstützt die Ukraine, gemessen an der eigenen Wirtschaftskraft, so stark mit Waffen wie Estland.

Joosep Värk, estnischer Rundfunkjournalist, verwies bei seiner Analyse der Stimmung im Land auf das kollektive Gefühl, dass Estland sich durch den Angriff Russlands auf die Ukraine in seiner eigenen Sicherheit bedroht fühle. Aktuell verglichen viele Esten das Schicksal ihres Landes mit dem Finnlands. Estland habe in Sowjetzeiten zwar Frieden gehabt, sei aber okkupiert gewesen. Finnland habe indes Moskau die Stirn geboten und sei zusätzlich frei gewesen. Den damaligen Fehler wollten die Esten nicht wiederholen. Deshalb scharten sich seine Landsleute so eindeutig hinter Kallas.

Eine Besonderheit des digital fortschrittlichen Landes lag in der Möglichkeit zum E-Voting, also zur elektronischen Stimmabgabe. Einen Monat zuvor waren die Abstimmungsmaschinen frei gegeben worden. Jeder zweite Wähler entschied sich für die Wahl per Klick – und viele machten zudem von der Möglichkeit Gebrauch, ihr Stimmverhalten anschließend noch ändern zu können. Am Wahltag selbst war das online zwar nicht mehr möglich, wer aber dann zur physischen Stimmabgabe schritt, sorgte dafür, dass sein vorheriges E-Voting annulliert wurde und nur seine letzte Entscheidung gezählt wurde. Weil sich physische und elektronische Ergebnisse stark unterschieden, wollen die Rechtspopulisten die Wahl nicht anerkennen. Noch in der Wahlnacht bedienten sie sich des Vokabulars von Donald Trump zu angeblich „gefälschten“ Wahlen.

Die große Aufmerksamkeit der anderen EU-Staaten an Kallas‘ Wahlsieg hängt auch damit zusammen, dass Estland den Auftakt zu einer ganzen Reihe wichtiger Wahlen bildet. Finnland, Bulgarien und Griechenland folgen bereits im April, Spanien, Luxemburg und Polen im Herbst. Auch der baltische Staat Litauen, in dem sich Deutschland mit einem Bundeswehrkontingent besonders an der Vorne-Verteidigung der Nato beteiligt, ist 2024 an der Reihe. Ein Pro-Russland-Ergebnis im nördlichen Baltikum hätte auch im südlichen Litauen Stimmungsschwankungen bekräftigt.

Ob Kaja Kallas Estland mit seiner direkten Grenze zu Russland in den nächsten vier Jahren mit deutlich größerer Mehrheit anführt, hängt nicht nur von den Koalitionsverhandlungen ab. In der Nato wird ihr Name auch immer wieder für die Nachfolge von Generalsekretär Jens Stoltenberg gehandelt. Dessen Amtszeit war angesichts des russischen Angriffskrieges um ein Jahr verlängert worden – trotz seiner Pläne, auf den Chefposten der norwegischen Zentralbank zu wechseln. Obwohl viele Mitglieder für eine nochmalige Verlängerung plädieren, soll seine Amtszeit nun jedoch nach neun Jahren laut Stimmen aus seinem Umfeld enden. Die Nato-Personalie wird wohl beim Gipfel im Juli geklärt – im litauischen Vilnius.

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