Ursula von der Leyen und die EU Die Straßburger „Ich-will“-Rede
Meinung · 90 Prozent ihrer 2019 verkündeten politischen Leitlinien habe sie in den ersten vier Jahren ihrer Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin liefern können, verkündete Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union. Offenkundig will sie nun mehr als die verbleibenden zehn Prozent, viel mehr.
Wenn die Renaturierung als zentrales Projekt der EU-Kommission von Ursula von der Leyen beinahe am Widerstand vieler Landwirte und christdemokratischer Abgeordneter gescheitert wäre, aber von einer Mehrheit doch über die Klippe gehoben wurde, dann besteht eigentlich kein Grund für die Kommissionspräsidentin, Monate später Kreide zu fressen. Den Satz „Ich möchte heute unseren Landwirten meine Anerkennung aussprechen“, hätte sie nicht sagen müssen. Schon gar nicht mit dem Zusatz, sie wolle mehr Dialog, weniger Polarisierung und mit den Landwirten einen strategischen Dialog beginnen. Monatelang hatten die Landwirte ihrer Kommission vorgehalten, genau das zu wenig getan zu haben. Zum Abschluss einer Kommissionspräsidentschaft nun also ein verbaler Bußgang? Das macht in der von-der-Leyenschen Machtpolitik nur Sinn, wenn es eben nicht um das Ende einer Amtszeit geht, sondern um den Anfang eines Wahlkampfes.
Ohne diese Verbeugung wären ihr Pfeifkonzerte enttäuschter und erzürnter Land- und Forstwirte fast sicher gewesen. So wie jeder Gedanke, jeder Satz, jedes Wort ihrer komplett durchinszenierten jährlichen Rede in Straßburg einen eigenen Zweck erfüllt, enthält auch diese Passage eine deutliche Botschaft: Von der Leyen will es besser machen bei dem Versuch, für die Klimabekämpfung den Rückhalt der Betroffenen einzuwerben, EU-Politik und Gesellschaft zu verknüpfen. Oder kürzer in Bezug auf die offene Frage einer Spitzenkandidatur: Von der Leyen will.
Zur Strategie einer zweiten Amtszeit an der Spitze der EU gehört natürlich die Vorbereitung einer dafür nötigen Mehrheit im Parlament. Auch da beknetete sie die Parlamentarier mit Seelenmassage bei Lieblingsprojekten. Ob es das Knüpfen von EU-Geldern an Rechtstaatlichkeit war oder das Versprechen, sich „notfalls“ für einen Konvent zur Veränderung der EU-Verträge einzusetzen. An beiden Stellen erntete sie Beifall über etliche Fraktionsgrenzen hinaus. Dass EVP-Chef Manfred Weber daraufhin wiederholt von der „von-der-Leyen-Mehrheit“ aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen in Straßburg sprach, macht das nur noch deutlicher. Und dass die beiden umgarnten Partnerfamilien daraufhin zurückzuckten und auf Webers Anbändeln mit Rechtspopulisten verwiesen, bestätigt vor allem, dass der Wahlkampf 300 Tage vor dem Wahltag begonnen hat. Es wird von der Leyens Wahlkampf, der offenbar über die Grenzen christdemokratischer Konzepte hinaus angelegt werden soll.
Klar, als Kommissionschefin wird von ihr ebenfalls verlangt, das große Ganze in den Blick zu nehmen. Insofern ist ihr Eintreten für eine grundlegende Reform der inneren Regeln und Abläufe der EU-Prozesse nur folgerichtig. Fatal indes ist ihr Plädoyer, das von der nächsten Erweiterungsrunde abzukoppeln, nicht einmal zur Bedingung für ein Wachsen der 27-Staaten-Union auf über 30 Mitglieder zu machen. Denn ohne stark gestraffte Verfahren wird eine noch größere Union noch anfälliger für egoistisch-populistische Erpressung, für endlosen Streit, für ausgebremste Notwendigkeiten. Das sollte von der Leyen wissen – im eigenen Interesse.