Analyse Ein Feiertag für Europa

Vor der Unterzeichnung des Aachener Vertrags sollten wir uns daran erinnern, dass aus dem vereinten Europa der Nachkriegszeit viel Gutes entwachsen ist. Ein Grund, uns zu sagen: Kopf hoch! Und nur Mut!

 Der sogenannte Aachener Vertrag knüpft an den 1963 von Adenauer und de Gaulle unterzeichneten Élysee-Freundschaftsvertrag an.

Der sogenannte Aachener Vertrag knüpft an den 1963 von Adenauer und de Gaulle unterzeichneten Élysee-Freundschaftsvertrag an.

Foto: dpa/Oliver Berg

Warum nicht das tun, was im Volksmund „Mit der Tür ins Haus fallen“ heißt: Ich bin dafür, dass der 22. Januar Feiertag in Deutschland und Frankreich wird. Zu diesem Datum wird alljährlich der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages vor 56 Jahren im Pariser Elysée-Palast gedacht. Aus Todfeindschaft wurde zwar nicht stets ungetrübte Freundschaft, aber doch im Laufe der vielen Jahre eine verlässliche Partnerschaft zwischen zwei Nationen, deren jeweils größte Nachkriegs-Staatsleute, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, Historisches im Sinn hatten: Europa müsse geschaffen werden. Franzosen und Deutsche stehen heute auf den Schultern der beiden Großen. Sie dürfen sich nicht klein machen (lassen), sondern müssen sich sagen: Kopf hoch, Europa! Du bist uns eine Sache des Herzens, aber mindestens so sehr auch des Verstandes.

Zitieren wir Bundeskanzler Adenauer aus einer Rede von 1954: „Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Und sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle. Sie ist notwendig für unsere Sicherheit, unsere Freiheit, für unser Dasein als Nation und als geistig-schöpferische Völkergemeinschaft.“ Klingt das zu pathetisch? Ich meine, nein: Große Ideen vertragen keine kleinen Worte, wenn sie mitreißen sollen. Die in Mode gekommene politische Kleinmünzerei begeistert die Menschen Europas nicht. Im Gegenteil, sie langweiligen sich zu Tode, mit der Folge, dass am Ende auch die doch eigentlich größte Nachkriegsidee auf dem Kontinent sterben könnte.

Der Elysée-Vertrag wird jetzt in Aachen, der Stadt Kaiser Karls des Großen, von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fortgeschrieben. Paris-Aachen – das ist eine europäische Achse des Guten. Diese Achse gehört nicht zu einem Streitwagen; sie muss wesentlicher Bestandteil eines effizienten, hochmodernen europäischen Kraftfahrzeugs sein, denn die immer hochmütiger auf Europa herabblickenden Supermächte China und USA haben mit uns kein Seifenkistenrennen vor. Das Amerika Trumps und das China Xis sehen bei zunehmendem Muskelaufbau in uns Europäern zuweilen zänkische, immerzu schwachbrüstige Wärter im eigenen großen Museum, das man gelegentlich, aus Schanghai und Los Angeles einfliegend, zur Erbauung mit Kind und Kegel besucht.

Wo sind die jungen Europäer, die das kleine politische Karo altmodisch finden, die dagegen aufbegehren, auf die Straßen gehen in Paris, Rom, Madrid, Warschau und Berlin? Wo gibt es einen jungen de Gaulle, einen jungen Adenauer, der am wie stillgelegt wirkenden Haus Europa mit einem Zukunftsplan zum Weiterbau ans Werk geht? Der Dombau zu Köln lag sechs Jahrhunderte lang darnieder, bis schließlich Aufbruch und Aufbaustimmung das Wunderwerk doch vollendeten. Heute ist die Kathedrale am Rhein die meistbesuchte deutsche Sehenswürdigkeit.

Europas Problem scheint nicht zuletzt der Kleinmut zu sein. Zwei Fragen dazu: Was wäre aus dem grandios gelungenen europäischen Airbus-Vorstoß geworden oder aus der starken Gemeinschaftswährung Euro, hätten sich die damals verantwortlichen Politiker wie europapolitische Griesgrame und Zipfelmützen verhalten?

Die beiden TV-Journalisten und Historiker Peter Arens und Stefan Brauburger versuchen, uns verzagten Europäern Mut zu machen. Sie schreiben einleitend in ihrem Buch „Die Europa-Saga“: Der Konflikt gehöre zur DNA Europas. Alle Kontraste dieser Welt hätten hier auf engstem Raum gewirkt. Europa sei der Erdteil der schlimmsten Kriege, aber auch der intensivsten Friedensbemühungen, ein Kontinent fürchterlichster Diktaturen und zugleich freiheitlicher Demokratien.

Es heißt, dass nur, wer sich selbst imponiere, auch andere beeindrucken könne. Warum drucken wir zum Beispiel auf unsere Geldscheine statt nichtssagender Abstraktionen nicht einige unserer größten europäischen Künstler- und Erfindergenies? In den Ländern der Europäischen Union, die zusammen weit weniger Erdfläche in Anspruch nehmen als die Wüste Sahara, gab es neben schändlichster Barbarei mehr Höhenflüge der Kunst, Literatur, Architektur, Medizin oder Technik als sonst auf der Welt. Schließlich waren es Europäer von großem Format, die nach 1945 aus dem großen Totentanz ihre Lehren gezogen und ein Friedensprojekt in Angriff nahmen, das ebenfalls seinesgleichen sucht. Lassen wir uns nicht verzwergen.

Neulich erzählte mir ein junger Portugiese, der mit Ehefrau und Kindern am Niederrhein lebt und unternehmerisch erfolgreich ist, von seinem Weihnachtstreffen mit den Eltern und Geschwister-Familien. Man kam im südfranzösischen Arles zusammen, einem Highlight europäischer Kulturgeschichte. Die Eltern reisten aus dem Norden Portugals an, ihr Sohn aus Deutschlands Westen und die Schwestern aus dem Raum Marseille. Der junge Portugiese sagte: „Ich bin Europäer.“ Vermutlich würden das viele junge Europäer zwischen Helsinki und Malaga auch über sich sagen. Warum tun sie es nicht lauter und vor allem öffentlich?

Der Schriftsteller Heinrich Mann hielt ein europäisches Gemeinschaftsgefühl für eine „reine Erfindung von Dichtern“. Die aktuelle Erfahrung mit europäischen Spaltungstendenzen scheint dem Pessimisten recht zu geben. Dagegen ein großes Trotzdem. Der Solinger Philosoph Richard David Precht hat es schön formuliert: „Ein Optimist, der scheitert, hat immer noch ein weit sinnvolleres Leben geführt als ein Pessimist, der recht behält.“

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