Serie „Unser Europa“ Der Brexit als Chance für Europa
Meinung | Düsseldorf · Bringt uns den Brexit! Die EU hat jetzt Wichtigeres zu tun: sie muss sich selbst reformieren. Da stört das Chaos aus Großbritannien nur. Nachverhandlungen sollte die EU verweigern.
Erst Chaos, nun wohl Verzögerung. Nach dem erneuten Scheitern des Brexit-Deals im britischen Unterhaus könnte der Austritt Großbritanniens, ursprünglich für den 29. März vorgesehen, verschoben werden. Gut so? Nein! Selbst überzeugte Europäer beschleicht allmählich das Gefühl, dass es Zeit für den Brexit wird, notfalls ungeregelt. Nachverhandlungen verbieten sich, die EU darf sich nicht zum Büttel der Briten machen lassen. Die EU ist besser auf den No-Deal-Brexit vorbereitet als umgekehrt. Außerdem: Die Europäische Union muss sich jetzt um Wichtigeres kümmern: sich selbst. Die Experten wissen es längst, die EU braucht eine Fitnesskur. Einen Masterplan, wie der Staatenverbund stärker, handlungsfähiger, in der Zusammenarbeit schneller und dynamischer, und vor allem einiger werden kann. Die Reform der EU ist angesichts der nationalistischen Tendenzen, der wegbröckelnden Partner im fernen Osten und transatlantischen Westen, die Mutter aller Reformen auf dem Kontinent. Dazu sollten die beteiligten Protagonisten – der umtriebige Ideen-Produzent Emmanuel Macron ist ausdrücklich ausgenommen – rasch liefern und verhandeln, statt wie das Kaninchen vor der Schlange über den Ärmelkanal zu schielen. Wir brauchen ein Gipfeltreffen der Staatschefs zur Zukunft der EU, nicht den vierten Krisengipfel zum Brexit.
Die Weichen für das „Zukunfts- und Schicksalsprojekt Europa“ (Helmut Kohl) müssen jetzt gestellt werden. Die Europawahl am 26. Mai ist die relevante Zielmarke. Die Chance, um Millionen Europäerinnen und Europäern klar zu machen, wohin die Politik den Kontinent führen will. Und dazu braucht es Ideen, Konzepte, ja, gerne auch kühne Visionen. Denn wenn das Europa der vergangenen Monate – zerstritten und zerfasert, attackiert von Nationalisten und tief in ihren Gräben eingebunkerten Ideologen – nicht das Europa der Zukunft sein soll, dann muss es jetzt schnell gehen mit dem Diskurs über das bessere Europa, der dann auch zu Entscheidungen führen muss. Das Brexit-Chaos und der fragile Zustand der Union könnte helfen. Denn wer sich die großen Entscheidungen in dem konsensorientierten, europäischen Staatenverbund anschaut, weiß, dass die Repräsentanten der Mitgliedsländer oft erst die Wand sehen müssen, vor die sie laufen könnten, bevor sie stoppen. Und umdrehen. Der Aufbruch vor dem Aufprall. Da sind wir jetzt wieder.
Der große Schritt ist möglich, das integrierte Europa lässt sich auch einer EU-skeptischen Bevölkerung verkaufen, wenn es pragmatisch und zielorientiert Aufgaben und Verantwortungen benennt. Wenn es entschlossen vereinheitlicht, wo es Sinn macht, aber eben auch dort Haltelinien einzieht oder Strukturen zurückbaut, wo „mehr Europa“ Wachstum und Wohlstand bremst. Die EU braucht einen Weckruf. Einen Relaunch. Eine schlagkräftigere und robustere Union konzentriert sich auf die großen Themen, nimmt die Subsidiarität ernst und teilt sich die Arbeit so, dass Kompetenzen maximal genutzt werden (siehe Verteidigungsbündnis). Und wo mehr Geld hilft, müssen die Milliarden aus den nationalen Etats fließen, etwa bei Investitionen in Zukunftstechnologien. Na klar ist mehr Integration und mehr Vereinheitlichung bei Bildung, Sicherheit, Infrastruktur, Handel, digitalem Binnenmarkt und Migration möglich. Damit kann man auch einen Wahlkampf bestreiten, weil es ein Konjunkturprogramm für den Kontinent wäre. Und natürlich darf es keine Kompromisse bei den gemeinsamen Werten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geben, wenn man denen die Stirn bieten will, die sich den Nationalstaat alter Prägung zurückwünschen und Brüssel abwickeln wollen. Dies wäre der wirkliche Exit. Der Exit aus der Weltwirtschaft. Der Exit aus der internationalen Bedeutung. Sie sehen, bei der Europawahl geht es wirklich um eine Richtungswahl.
Worum es aber nicht geht, ist ein ideologischer Schönheitswettbewerb. Wer ist der leidenschaftlichere Europäer? Einige gehässige Reaktionen von SPD und Grünen auf die Vorschläge von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer lassen diese Tendenz erkennen. Nicht der, der mehr Geld für Soziales fordert und die EU zu einem Super-Umverteilungsstaat machen will, ist ein überzeugter Europäer, sondern der, der sich Gedanken darüber macht, wie der Kontinent wettbewerbsfähiger im Vergleich zu den Boom-Regionen USA und China werden kann und damit wohlhabend bleibt. Gleichwertige Lebensverhältnisse lassen sich nicht schaffen, in dem Brüssel denselben Mindestlohn für Sizilien, die bulgarischen Rhodopen und Helsinki und Frankfurt diktiert. Eine Neuverteilung der Strukturfonds, Investitionshilfen und Sonderwirtschaftszonen sind marktwirtschaftliche, und damit bessere Instrumente. Eine Harmonisierung der Sozialsysteme, etwa der Arbeitslosenversicherung, kann am Ende des Prozesses stehen, aber nicht am Anfang. Die Konjunkturwolken lassen sich nicht mit Schutzausgaben vertreiben, sondern mit Stimulanz. Dies auszusprechen heißt nicht, Europa nicht als Herzensprojekt zu betreiben. Zwischen einem Reformisten und einem EU-Skeptiker liegen Welten. „Europa ist die Antwort“ ist deshalb als Kampagnenmotto unzureichend, man muss schon die richtigen Fragen stellen.
Die Befürchtungen des Philosophen Jürgen Habermas, dass eine Erweiterung europäischer Kompetenzen zwingend an der mangelnden Akzeptanz möglicher umverteilungsrelevanter Folgen scheitert, wenn diese Umschichtung über nationale Grenzen hinausreicht, lässt sich ausräumen, wenn Solidarität, auch finanzielle, mit einem Ziel und klaren Regeln verbunden wird. Dazu gehört etwa der Stabilitätspakt. Hilfe zur Selbsthilfe ist auch in Deutschland mehrheitsfähig, ein simpler Überbietungswettbewerb bei Subventionen dagegen nicht.
Und es gibt ja Bereiche, wo Integration schnell gelingen kann. Bildung und Digitalisierung etwa. Europas Vorteile werden sichtbar, wenn Menschen zueinander finden. Das Erasmus-Programm ist das Vorzeigebeispiel. Hier wirkt Europa konkret und bereichernd. Diese Freizügigkeit lässt sich jenseits von Akademikern für Berufstätige und Lehrende, für Azubis und Forschende, organisieren. An der deutsch-niederländischen Grenze tauschen Schulen heimlich Lehrer aus, wenn Unterrichtsausfall droht oder interkulturelle Projekte gestartet werden. Die offizielle Anerkennung der Abschlüsse dauert zu lange oder scheitert an der Bürokratie. Dass Europa schlanker werden muss, ist eine Binse. 27 Kommissare und 27 Regierungsapparate sind zu viel. Zwei Standorte für das EU-Parlament auch. Die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips ist dringend notwendig, damit schneller entschieden werden kann. Aber dieser Beschluss muss eben auch einstimmig beschlossen werden. So können Bonsai-Mitglieder wie Luxemburg, Malta oder Zypern alleine Gesetze für die Union verhindern, etwa bei der Mindestbesteuerung für Kapitalgesellschaften. Ein Relikt aus Zeiten, als man es jedem recht machen wollte.
Ein beherzter Digitalisierungsschub ist ein weiteres Beispiel. Das kostet Geld. Zumindest am Anfang. Aber dies wäre gut investiert. Ein europäisches Stanford, das sich mit der jungen digitalen Wirtschaft verbündet, ist eine Idee. Ein milliardenschwerer Risikofonds für Start-ups eine andere. In Israel werden pro Kopf 330 Euro Startkapital an Gründer ausgereicht, in den USA 230 Euro. In Deutschland liegt die Risikokapitalquote bei 33 Euro pro Einwohner, in der EU sind es magere 26 Euro. Das wird nicht reichen, um den globalen Tech-Konzernen Facebook und Google, Amazon oder Alibaba, etwas zu entgegnen.

Die Spitzenkandidaten 2019 der Europawahl
Der große Europäer Jean Monnet hat es auf die wunderbare Formel gebracht, die europäische Vergemeinschaftung dürfe nicht „nur“ den Frieden sichern, sondern müsse auch rationalen Nutzen bringen. Im Klartext: Europa muss fit gemacht werden, weil nur so Europa akzeptiert wird und zusammen bleibt. Und nur so bleibt die Union im Kampf der Weltregionen um Wohlstand relevant. All das steht am 26. Mai auf dem Spiel. Der Brexit ist angesichts dieser Herausforderungen nur eine Fußnote.