Krise in der Ukraine Putins Krim — Vorbild für Europas Separatisten?

Kiew · Fast jedes große Land in Europa umfasst ein Gebiet, das nach Unabhängigkeit strebt. Gemessen an Wladimir Putins Sicht, wonach sich Minderheiten abspalten dürfen, müsste es einige neue Nationen geben. Doch die russische Argumentation ist wacklig. Und Vergleiche mit der Ukraine sind schwierig.

Ost-Ukraine: Prorussische Kämpfer besetzen Gebäude
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Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat gestern erneut die Entschlossenheit Moskaus unterstrichen, die "legitimen Interessen" von Russen in der Ukraine notfalls durch die Entsendung von Truppen durchzusetzen. Diese Reaktion sei durch das Völkerrecht gedeckt, betonte Lawrow. Doch wäre ein solcher Einmarsch nicht eher ein völkerrechtswidriger Angriff auf einen souveränen Staat? Eindeutig ist die Antwort nicht.

Die Rechtslage Souveräne Staaten werden im Völkerrecht definiert durch das Staatsvolk (ein politisch und rechtlich organisierter Personenverband), das Staatsgebiet (eine abgegrenzte Fläche) und die Staatsgewalt (eine Organisation, die der Bevölkerung eine eigene Ordnung gibt). Das Selbstbestimmungsrecht der Völker billigt vor allem diskriminierten Minderheiten ein Sezessionsrecht zu, was auf die Russen in der Ukraine eher nicht zutrifft. Als entscheidend gilt, dass das nach Unabhängigkeit strebende Gebiet als Staat fortbestehen kann.

Dagegen steht die in der UN-Charta festgelegte Unverletzlichkeit von Staatsgrenzen. Ein Einmarsch in die Ost-Ukraine würde zudem gegen Russlands Zusage verstoßen, die Grenzen seines Nachbarlandes zu respektieren — dieses Versprechen hat der Kreml bereits mit der Annexion der Krim gebrochen. Ein Streitpunkt für Juristen ist zudem das Problem, dass die Russen in der Ukraine gar keinen eigenen Staat bilden wollen, sondern sich einem bestehenden anderen, nämlich Russland, anschließen möchten.

Autonomieforderungen in Europa Stellen die russische Übernahme der Krim und die Drohungen des Kreml in Richtung der Ost-Ukraine ein Modell für die regionalen Gruppen dar, die zurzeit etwa in Spanien, Großbritannien, Frankreich oder Italien nach Autonomie streben? Ein Vergleich hinkt schon deshalb, weil sich diese Gruppen keinem anderen Land anschließen, sondern unabhängige Staaten werden wollen. Ein militärisches Eingreifen ist — unabhängig vom Ausgang der Bestrebungen — in keinem dieser Fälle vorstellbar. Auch sind die Ziele der Separatisten unterschiedlich. Folgende Regionen streben nach Autonomie:

Katalonien Der Streit um die Region im Nordosten Spaniens ist zurzeit der heftigste in Westeuropa. Im Mai setzte das Verfassungsgericht in Madrid die Souveränitätserklärung der Regionalregierung in Barcelona vom Januar 2013 außer Kraft. Deren Regierungschef Artur Mas will trotzdem am 25. November eine Unabhängigkeitsabstimmung durchführen. Umfragen zufolge befürworten derzeit 74 Prozent der Katalanen die Gründung eines eigenen Staates. Die wirtschaftsstärkste Region in Spanien kämpft seit Jahrzehnten für mehr Autonomie. Ihr Hauptmotiv: ein Ende des Finanztransfers in die ärmeren Regionen Spaniens.

Baskenland Besucher fühlten sich noch in den 80er Jahren in der malerischen Region im Norden Spaniens, die an Frankreich grenzt, wie in einem Bürgerkrieg. Fast 50 Jahre lang kämpfte die Untergrundorganisation Eta für einen unabhängigen baskischen Staat; bei 4000 Terroranschlägen starben mehr als 830 Menschen. Die Lage scheint sich inzwischen beruhigt zu haben: Die Nationalisten verloren auch bei Wahlen deutlich an Boden.

Schottland Der berühmteste Schotte, 007-Darsteller Sean Connery, hat seine Landsleute aufgefordert, für die Abspaltung von Großbritannien zu stimmen — am 18. September ist diese Volksabstimmung geplant. Der schottische Ministerpräsident Alex Salmond will einen Wohlfahrtsstaat einrichten, der vom künftigen Ölreichtum des Landes finanziert werden soll. Anders als die Mehrheit der Engländer sind die Schotten Anhänger der EU und hätten als Währung gern den Euro statt des britischen Pfund. Trotzdem könnte die Abstimmung zugunsten des Vereinigten Königreichs ausfallen: Umfragen zufolge sind fast 50 Prozent der Schotten gegen eine Abspaltung, weniger als 40 Prozent befürworten sie.

Korsika Auch Frankreich hat Probleme mit Separatisten: Seit Jahrzehnten kämpfen militante Korsen für die Unabhängigkeit der Mittelmeerinsel und schrecken auch vor Bombenanschlägen auf Villen von Festland-Franzosen und Ausländern sowie auf Verwaltungsgebäude nicht zurück. Im Verlauf der Geschichte haben auch Griechen, Römer, Mauren, Genueser und Engländer die Insel erobert — wohl ein Grund für das starke Autonomiestreben der Korsen. Die Regierung in Paris hält aber energisch dagegen.

Flandern Der belgische Staat wird immer wieder kurz vor dem Zerfall in zwei Hälften gesehen. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts schwelt der Streit zwischen den Bevölkerungsgruppen der Flamen und der Wallonen. Heute steht der niederländisch-sprachige Teil wirtschaftlich besser da als die französischsprachige Wallonie. Der Riss zieht sich auch quer durch die Parteien: 2010/2011 war das Land 540 Tage ohne Regierung, weil darüber keine Einigung erzielt werden konnte.

Padanien/Südtirol Die starken Bindungen der nördlichsten Provinz Italiens an Deutschland und Österreich ließen in der 50er Jahren sogar eine gewalttätige Untergrundbewegung gegen die Regierung in Rom entstehen. Nachdem Südtirol weitgehende Autonomie erhalten hatte, ist die Abspaltung kein Thema mehr, wohl aber die Autonomie des gesamten reichen italienischen Nordens, der den armen Süden unterstützen muss. Vor allem die rechtspopulistische Lega Nord kämpft für den Staat Padanien (Land der Po-Ebene) und übernahm den Gefangenenchor aus Verdis Oper "Nabucco" als "Nationalhymne". Das Parlament in Rom legte die Forderung zwar 2001 auf Eis, der Streit schwelt jedoch weiter.

Blick nach Osteuropa Der von Bürgerkriegen begleitete Zerfall Jugoslawiens ab 1991 sorgt bis heute für ungelöste Probleme: Die serbische Bevölkerungsgruppe will sich von Bosnien-Herzegowina ebenso abspalten wie im Norden des Kosovo, wo es immer wieder zu heftigen Krawallen kommt.

Musterbeispiel Die europäischen Separatisten führen die Tschechoslowakei als gelungenes Beispiel für eine friedliche Trennung an: Nach den ersten freien Wahlen 1990 forderten slowakische Gruppen die Loslösung. Im Januar 1993 trat — respektiert von der Regierung in Prag — die offizielle Abtrennung der Slowakei von Tschechien in Kraft.

(RP)
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