Angriff auf die Ukraine Wie begründet ist die Angst vor einem neuen Weltkrieg?

Analyse | Brüssel · Russischer Angriff auf die Ukraine, Nato-Truppenverlegungen nach Osteuropa. Kampfjets in Alarmbereitschaft. Das lässt bei vielen im Westen das Gefühl wachsen, selbst von Krieg bedroht zu sein. Wie ist es darum bestellt?

 Außenministerin Annalena Baerbock mit Helm, Maske und Schutzweste am 8. Februar im Osten der Ukraine.

Außenministerin Annalena Baerbock mit Helm, Maske und Schutzweste am 8. Februar im Osten der Ukraine.

Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

Auch in der Ukraine-Krise bleiben manche Twitter-Nutzer bei ihrer Meinung, dass auf einem Kurz-Nachrichtenkanal die Schlussfolgerungen ebenfalls kurz sein müssten. Kaum stellt die Nato fest, dass Russland nun so aufgestellt sei, dass ein Angriff auf die Ukraine bereits binnen weniger Tage erfolgen könne, schon lautet die Klage: „Wir sind nicht mal raus aus der Corona-Pandemie und schon steht uns der dritte Weltkrieg bevor?“ Konsequenterweise folgt der russischen Ankündigung von einer Rückverlegung eines Teiles der Truppen binnen weniger Minuten die Twitter-Feststellung: „Dritter Weltkrieg findet nicht statt.“ Nur Tage später wurde klar, dass der „Abzug“ Teil einer massiven russischen Propaganda war, die mit gezielten Falschinformationen die tatsächlich massiven Kriegsvorbereitungen und die Urheber der Aggression nur verschleiern sollte. Aber wie steht es nun um Krieg und Frieden in Europa, das Russland den seit Wochen vorbereiteten Angriff mit massiven Kräften begonnen hat?

Mit dem Marschbefehl für rund 200.000 russische Soldatinnen und Soldaten wächst die Furcht vo einem großen Krieg auch in den anderen Ländern Europas. Die diffuse Angst sogar vor einem Weltkrieg mit einem für alle sichtbar nicht mehr friedlichen Europa im Mittelpunkt hat ganz offensichtlich auch mit zwei neuen Umständen zu tun. Da ist zum einen die Erfahrung, dass die alte Gewissheit, wonach Ereignisse in der Ferne nahezu immer ohne gravierende Folgen für das eigene Leben bleiben, nicht mehr besteht. Die Frage von Anfang 2020, ob dieses ominöse Virus in einer Stadt namens Wuhan vielleicht irgendwann mal ein paar Touristen auch aus Europa betreffen könnte, verwandelte sich in die Erfahrung von Ausgangssperren, geschlossenen Discos, Kneipen und Schwimmbädern für jeden Einzelnen in jeder Stadt, in jedem Dorf. Die Lehre: Was weit weg zu sein scheint, kann im nächsten Augenblick mein eigenes Leben bedrohen.

Damit einher ging die über Wochen immer konkreter werdende Berichterstattung über die russischen Kriegsvorbereitungen, zunächst als Manöver nördlich, östlich und südlich der Ukraine getarnt, zum Schluss jedoch mit der konkreten Beschreibung, wie Dutzende von Kampfbataillionen Gefechtsbereitschaft einnehmen und an die Grenzen der Ukraine vorrücken. Der Entschluss zum Angriff mag bereits vor Wochen gefallen sein. Doch nutzte Putin unterschiedliche Meinungen im Westen über die Aufnahme neuer Staaten in die Nato, um die Dinge in der Schwebe zu halten und mit politischem Druck eine Spaltung des Westens zu versuchen. Insofern ließ sich der Aufmarsch an den ukrainischen Grenzen als Druckmittel interpretieren. Die Botschaft: Wir fühlen uns von der Nato bedroht, brauchen deshalb einen Sicherheitsabstand, und deshalb soll die Ukraine nicht in die Nato und die Nato ihre Präsenz in anderen Ländern des alten sojwetischen Einflussbereiches runterfahren. Viele taten Putin diesen Gefallen, sprachen von einer Russland bedrohenden „Landnahme“ der Nato, so als habe die Nato Territorien erobert und habe es den dringenden Wunsch der nun souveränen Staaten, Schutz vor Moskau zu finden, niemals gegeben. Seit dem 24. Februar 2022 wissen die nach der Wende hinzugekommenen Nato-Mitglieder, wie richtig sie lagen.

Wie konnte es sein, dass für Russland 2022 unerträglich geworden war, was sich bis 2004 ereignet hatte und abgeschlossen war? Wie konnte es einen vermeintlichen Präventivkrieg in Gang setzen, um eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern, obwohl diese nicht auf der Tagesordnung stand und nach dem Verständnis der Nato in den nächsten Jahrzehnten auch nicht wahrscheilich war? Russland verlangte von der Nato, für alle Zeiten auf eine Aufnahme der Ukraine zu verzichten. Das aber gehört zum Selbstverständnis einer freien Welt: Dass freie Staaten selbst darüber entscheiden, in welchem Bündnis sie sich organisieren wollen. Das Recht der Ukraine, einen Mitgliedsantrag auszufüllen, konnte die Nato nicht an Russland abtreten. Das wäre die Ersetzung des Völkerrechtes durch Vasallentum gewesen. In seiner Fernsehansprache vom 21. Februar stellte Putin dann selbst etwas anderes in den Mittelpunkt: den Anspruch auf historisch russische Gebiete. Also ein Ende der Grundlagen des Friedens in Europa, die existierenden Grenzen nicht mehr in Frage zu stellen. Wollte Putin das zum Prinzip des Zusammenlebens in Europa erheben und andere Staaten dazu ermutigen, gleichfalls vorzugehen, wäre es bis zum Weltkrieg nicht mehr weit. Schon der Blick auf Kaliningrad müsste Putin dazu bringen, die russische Enklave westlich des Baltikums zu räumen - denn Königsberg war Teil der Geburt einer deutschen Nation.

Obwohl stets klar ist, dass der Westen nicht in derartig kruden Kategorien denkt, erfahren viele, die sich im Alltag möglicherweise nicht für jede Verästelung der Politik interessieren, dass Russland nicht mit sich spaßen lässt, dass es vor fast acht Jahren die Krim besetzt, annektiert und den Osten der Ukraine in einen ständigen Kriegszustand versetzt hat, der weit über 10.000 Menschen das Leben kostete - und jetzt den großen Krieg tatsächlich beginnt. Und dann kommen die Meldungen über Truppenverlegungen der USA und anderer Nato-Staaten nach Osteuropa in den Blick und suggerieren: da bereiteten beide Seiten den Krieg.

Wie groß ist die Kriegsgefahr in Europa?

Getriggert wurde das Gefühl zwischenzeitlich sowohl von vornehmlich linken Protagonisten, die schnell bekundeten, „nicht für die Nato sterben“ zu wollen. Und von einem US-Präsidenten Joe Biden, der sogar das Wort vom „Weltkrieg“ in den Mund nahm. Allerdings drohte er nicht damit, sondern begründete damit das genaue Gegenteil: US-Bürger rechtzeitig aus der Ukraine zu holen, damit US-Militär sie im Ernstfall nicht herausholen müsste und dann mit russischen Soldaten zusammenstoßen könnte. Man mag darüber streiten, wie es auf eine angriffsbereite Macht wirkt, wenn Washington das Signal gibt, sich im Falle eines russischen Einmarsches abseits zu halten. Es war jedenfalls Ausdruck, einen direkten Konflikt der Großmächte nicht etwa zu riskieren, sondern ihn so weit wie möglich auszuschließen.

Die Nato hat sich als Verteidigungsbündnis aufgestellt. Wer Litauen oder Rumänien angreift, löst den Bündnisfall und massive Truppenbewegungen aus. Aber die Ukraine gehört nicht zum Bündnis, und um hier auch nur theoretisch eingreifen zu können, müssten analog zu den seit Monaten auf russischer Seite laufenden Truppenkonzentrationen auch auf Nato-Gebiet ähnliche Vorbereitungen laufen. Dazu nur ein einfacher Vergleich: Um 1991 den Schlag gegen den Irak zu führen, zogen die USA und ihre Verbündeten gut 2700 Flugzeuge in der Region zusammen. Allein in der ersten Angriffswelle kamen über 660 Kampfjets zum Einsatz. Und aktuell? Haben die Bundeswehr drei (!) und die USA acht (!) Kampfjets nach Rumänien verlegt, um Flagge zu zeigen.

Die Antwort auf die Frage nach der Kriegsgefahr in Europa hängt stark von der Definition ab. Geht es um Europa außerhalb der Ukraine, ist sie denkbar gering. Selbst die weitere Verstärkung der Militärpräsenz an der Nato-Ostflanke mit insgesamt mehreren tausend Soldaten in verschiedenen Ländern ist letztlich eher symbolischer Natur. Das zeigt auf der anderen Seite die Dimension der Angriffsvorbereitung Russlands mit annähernd 200.000 Soldaten nur mit Stoßrichtung Ukraine. Um einen Krieg mit Russland führen zu können, müssten Hunderttausende Nato-Soldaten in die östlichen Staaten verlegt werden. Doch selbst die Schnelle Eingreiftruppe der Nato mit bis zu 40.000 (nicht: 400.000 Soldaten) hatte in den Wochen vor Russlands Angriff nur den Befehl erhalten, ihre Verlegefähigkeit von 45 auf 30 Tage zu verringern. Die Nato-Speerspitze sollte sich bereit halten, innerhalb von sieben statt 30 Tagen Gefechtsbereitschaft einzunehmen. Verlegt sind nur geringe Teile. Die Selbstläufer allgemeiner Mobilmachungen, wie sie zum Ausufern des Konfliktes von 1914 zum Ersten Weltkrieg beitrugen, sind also derzeit nicht einmal im Ansatz gegeben.

Die Frage nach einem Krieg in der Ukraine als Teil Europas hat sich in den frühen Morgenstunden des 24. Februars beantwortet. Dem Angriff waren massive Fehlinformationen, vorsätzliche Fälschungen und Inszenierungen unter falscher Flagge vorangegangen, um in der Bevölkerung den Angriffskrieg als Akt einer Verteidigungsmaßnahme darzustellen. Nicht Russland sei der Aggressor, sondern verteidige russische Bürger. Eine Militäroperation, die dem Ziel diene, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren.

Zwischen Weltkrieg und Russland-Ukraine-Krieg gibt es einen weiteren entscheidenden Unterschied: Der Erste Weltkrieg entsprang einem komplizierten Bündnisgeflecht und war auf allen beteiligten Seiten getragen von der Überzeugung, einen Waffengang leicht gewinnen zu können. Natürlich gibt es auch heute ein klares Beistandsversprechen. Dieses ist jedoch auf Nato-Mitglieder beschränkt. So lange Putin kein Nato-Territorium angreift, treibt er mit einem Angriff auf die Ukraine nur sein eigenes Land in die Isolation und in den wirtschaftlichen Ruin, weil EU- und Nato-Staaten mit immer schärferen Sanktionen darauf reagieren. Aber er löst keinen Weltkrieg aus. Ein solcher wäre auch sehr bald ein nuklearer Krieg, der die Annahme von schnellen Erfolgen, anders als zu Beginn des Ersten und Zweiten Weltkrieges ins Gegenteil verkehrt: Das immense Risiko der eigenen Vernichtung.

Genau das steckt natürlich ebenfalls hinter der diffusen Kriegs-Angst: Die Furcht vor einem Atomkrieg ist im Laufe der Jahrzehnte lediglich in den Hintergrund getreten, aber nie ganz verschwunden. Mehrfach wähnte sich die Menschheit bereits an diesem Abgrund. Etwa im Korea-Krieg der 1950er und in den Kuba- und Berlin-Krisen der 1960er Jahren. Der Thriller-Autor Ken Follet hat sich nun das Hineinrutschen der Staaten in den Ersten Weltkrieg zum Vorbild genommen, um einen sich im Hochschaukeln zwischen Nordkorea, China und den USA entwickelnden Atomkrieg zu beschreiben. Die Hinwendung der USA zur Bedrohung aus China spielt in der Tat bei der Analyse eine Rolle, was Putin zu seinem Vorgehen in Europa neben seiner nationalistischen Sicht ebenfalls verleitet haben mag. Allerdings gibt es einen Unterschied: Die Ukraine hat keine Atomwaffen. Die hat sie an Russland abgetreten. Im Gegenzug zur russischen Garantie, die Grenzen der Ukraine nicht zu verletzen.

Der Angriff zeigt, dass solche Garantien einer hochgerüsteten Militärmacht nichts mehr wert sind. Insofern markiert der Krieg gegen die Ukraine eine langfristig wachsende Gefahr. Wenn kleine Staaten aus dem Schicksal der Ukraine die Lehre ziehen müssen, dass nur stark gerüstete Länder sich dem Zugriff militärischer Supermächte entziehen können, kann dies einen neuerlichen atomaren Rüstungswettlauf auslösen. Zumal sich China genau anschauen wird, wie Putin ein Zugriff auf „historisch russische“ Gebiete gelingt oder nicht. Denn auch Peking hat wiederholt die Drohung bekräftigt, das Taiwan-Problem „endgültig lösen“ zu wollen. Damit bestünde für alle Anrainerstaaten Russlands und Chinas nur noch eine Alternative: Sich entweder den Machtansprüchen und den Einflussgelüsten der Militärmächte zu fügen, oder sich ebenfalls eine massive Abschreckungswaffe zuzulegen. Dann stellt sich allerdings auch die Frage nach der Gefahr eines Dritten Weltkrieges auf bedrückende Weise neu.

Diese Analyse wurde ursprünglich am 15. Februar 2021 auf RP ONLINE veröffentlicht. Nachdem Putin den Angriff auf die Ukraine angeordnet hat, haben wir den Text insgesamt aktualisiert und ergänzt und bieten ihn erneut zum Lesen an.

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