Ringen um EU-Asylsystem Ein Machtwort ohne Macht
Meinung | Brüssel · Nancy Faeser drohte, die Kritik vieler EU-Kollegen auf sich zu ziehen. Kurz vor den Wahlen in Hessen wäre das EU-Treffen zur Asylpolitik wegen der deutschen Blockade verheerend für die SPD-Spitzenkandidatin und Innenministerin geworden. Davor hat der Kanzler sie mit seinem Eingreifen bewahrt. Doch gelöst ist noch nichts.
Es war klar, dass die Ampel diesen Asylkurs nicht beibehalten könnte, wenn sie nicht die letzte Glaubwürdigkeit verlieren wollte: Die Lösung der Migrationskrise in Deutschland von einer Einigung auf ein europäisches Asylpaket abhängig machen und zugleich selbst diese Einigung nach Kräften verhindern. So war es nachvollziehbar, dass der Kanzler unmittelbar nach dem Auftauchen einer internen Berliner „Hart-bleiben“-Weisung an die Ständige Vertretung in Brüssel die Flucht nach vorne antrat und im Kabinett verfügte, Deutschland werde der Asyl-Krisenverordnung nicht mehr im Weg stehen.
Damit hat er einmal mehr die Grünen abgekanzelt. Denn der Widerstand kam von Außenministerin Annalena Baerbock, und sie hatte die Blockade der EU-Gesetzgebung kurz zuvor via Sozialen Netzwerken öffentlich dokumentiert. Zwar gab Scholz es den Grünen dieses Mal nicht schriftlich, wie bei der Kernkraft-Laufzeitverlängerung, aber die „Mitteilung“ des Kanzlers ohne vorherige Beratungen kann gleichwohl als Ausübung seiner Richtlinienkompetenz eingeordnet werden. Dafür gilt die alte Erkenntnis: Wer von ihr Gebrauch machen muss, hat in Wirklichkeit seine Kompetenz verloren, weil in funktionierenden Koalitionen Einvernehmen durch Einsicht und Verabredung erzielt wird und nicht durch Befehl und Gehorsam.
Die Grünen werden deswegen nicht die Koalition sprengen. Aber sie werden es sich merken und beizeiten die Rechnung präsentieren. Noch kann Scholz durch derartiges Vorgehen davon ablenken, Kanzler der kleinsten Kanzlerpartei aller Zeiten zu sein. Wären sich FDP und Grüne einig, könnten sie ihn ständig ausbremsen, weil sie zusammen stärker sind als die SPD. Möglicherweise lässt das jüngste Manöver die Neigung bei Grünen und FDP wachsen, sich strategischer aufzustellen und sich jeweils gegenseitig Projekte zuzugestehen.
Eine Einigung der EU-Innenminister auf das letzte Stück im Puzzle eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist vordergründig genau das richtige Signal in der sich verschärfenden Migrationskrise. Daran führt kein Weg vorbei, wenn der zunehmende Fluchtdruck in vernünftige Bahnen gelenkt werden soll – und wenn die demokratischen Parteien den Zulauf zu Populisten mit radikalen Scheinlösungen eindämmen wollen.
Tatsächlich ist es noch kein wirklicher Schritt zum Ergebnis. Berlin hat nur den Weg frei gemacht, damit die vom EU-Parlament ausgesetzten Verhandlungen über das Gesamtpaket wieder aufgenommen werden können. Das Berliner Ja zum Krisenmechanismus wird auf ein Nein des Parlamentes prallen. Aber selbst ein Kompromiss dürfte Jahre brauchen, bis er zu wirken beginnt. Was außerdem bleibt, ist das anhaltende Ungeschick des Kanzlers in europäischen Angelegenheiten. Vor den Verhandlungen zu sagen, man werde auf jeden Fall zustimmen, schmälert die Aussichten auf eigene Punktgewinne enorm. Deshalb gerieten die Verhandlungen der Innenminister am Donnerstag auch umgehend ins Stocken. Wie so oft hat es Scholz versäumt, sich frühzeitig an die Spitze der Bewegung zu begeben, um selbst eine Einigung unter Einbindung eigener Wünsche zu erzielen.