Woche der Verhandlungen Putins Ukraine-Kalkül

Meinung · Ob die Verhandlungen mit Russland in Genf, Brüssel und Wien in dieser Woche nennenswerte Fortschritte bringen oder mit Forderungen so überfrachtet wurden, dass ein frühzeitiger Abbruch provoziert werden soll, liegt nicht in der Macht des Westens. Aber die klügsten Reaktionen.

Russlands Präsident Wladimir Putin am Montag bei einer Videoschalte mit Verbündeten zur Lage in Kasachstan.

Russlands Präsident Wladimir Putin am Montag bei einer Videoschalte mit Verbündeten zur Lage in Kasachstan.

Foto: dpa/Alexei Nikolsky

Es tut dem Ego des Kremlführers sichtlich gut, mit der Verlegung von hunderttausend Soldaten an die ukrainische Grenze die USA, die EU und die Nato auf Trab gebracht zu haben. Im Kern betreibt Wladimir Putin das Gegenteil von verantwortlichem, fairen Umgang in einer globalisierten Welt des Jahres 2022, nämlich die Wiederbelebung der Kanonenbootpolitik imperialistischer Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts.

Insofern kommen die Verhandlungen bereits dem Geltungsbewusstsein Putins und seiner Sehnsucht nach alter sowjetischer Stärke entgegen. Russland auf Augenhöhe, Moskau als Machtfaktor, eine Nato, die sich für die russischen Besorgnisse interessiert. Das ist für den Kreml ein Wert an sich. Und doch ist es keine Lösung. Denn was wirklich dahintersteckt, lassen Putins Äußerungen aus den vergangenen Monaten auf bedrückende Weise klar werden.

Da ist die Verklärung, ja Legendenbildung gemeinsamer identitätsstiftender Ursprünge von Russen, Weißrussen und Ukrainern, die es gegen antirussische Verschwörungen des Westens zu verteidigen gelte. Meinungsumfragen belegen, dass die Stimmungsmache in Russland auf fruchtbaren Boden fällt. Viele Russen erwarten einen Krieg in der Ukraine, und die Mehrheit von ihnen glaubt, dass daran USA und Nato die Schuld trügen. Das verweist auf den mit der Geschichtsklitterung verknüpften zweiten Strang von Putins Motiven: System- und Machterhalt. Einem, der erlebt hat, wie schnell sich Freiheitssehnsucht auch im russischen Volk in Umsturzbestrebungen gegen die herrschende Elite verwandeln kann, muss eine demokratisch funktionierende Ukraine jeden Tag neue Angst machen. Der von Norden, Osten und Süden aufgebaute militärische Druck auf die Ukraine ist deshalb auch eine Warnung an die eigene Bevölkerung. Verräterisch sind hier die Versicherungen Putins, „Farbrevolutionen“ niemals zuzulassen. Die orangene Bewegung von Kiew lässt grüßen.

Der Truppenaufmarsch dient auch dem Zweck, von den wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen in Russland abzulenken. Dazu nutzte Putin bereits die Annexion der Krim und die angezettelten Aufstände in der Ostukraine. Auch eine Ausweitung auf weitere ukrainische Regionen würde diesem Kalkül folgen. Die russische Forderungsliste erscheint vor diesem Hintergrund nur vorgeschoben. Die Garantie eines Nichtbeitritts der Ukraine zur Nato ist so wenig mit der Souveränität eines freien Staates zu verbinden wie ein Beitritt aktuell ansteht. Sie erfüllt lediglich den Zweck, „Beweise“ für den faktenfreien Verfolgungswahn Russlands zu erfinden.

Die Reaktion des Westens sollte an diesen Befunden festmachen: Auf der einen Seite brauchen die Ukrainer spürbare Unterstützung. Auf der anderen Seite muss Putin wissen, dass er einen Waffengang (zu) teuer bezahlen würde. Mit neuerlichen wirtschaftlichen Problemen. Und mit drastischen Sanktionen gegen die Teilnehmer seiner staatskapitalistischen Eliten- und Günstlingswirtschaft. Ihren Erhalt bezweckt Putin, auf ihren Rückhalt aber ist er auch angewiesen. Sie sollten spüren, was es mit ihrer Bewegungs- und Genussfreiheit im Westen macht, wenn der Kremlherrscher zu weit geht.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort