Außensicht auf ein mittelmäßiges Land Kopfschütteln über Deutschland

Brüssel · Das wiederholte frühe WM-Ausscheiden, die fehlenden Medikamente und Kinderkrankenbetten, das geborstene Großaquarium lassen auch in Deutschland Zweifel an der eigenen Stärke aufkommen. Europa-Abgeordnete haben das längst, wenn sie von außen auf ihre Heimat blicken.

 Im Nachtzug nach Kiew: Der damalige italienische Regierungschef Mario Draghi, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte Juni beim nächtlichen Gespräch in einem funktionierenden Zug in der Ukraine.

Im Nachtzug nach Kiew: Der damalige italienische Regierungschef Mario Draghi, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte Juni beim nächtlichen Gespräch in einem funktionierenden Zug in der Ukraine.

Foto: dpa/Jesco Denzel

Der deutsche Michel Normalbürger sieht es abends in der Tagesschau, wenn Auslandsreporter aus aller Welt berichten. Was da alles schief geht, was da alles nicht funktioniert. Doch spätestens, wenn er einfach mal von der deutschen Stadt A zur deutschen Stadt B mit dem Zug fahren will, bekommt er eine Ahnung davon, dass da etwas nicht stimmt in seiner eigenen Umgebung. Die Perspektive auf die Heimat beginnt sich spätestens nach der Fußball-WM-Schmach zu verändern. Europa-Abgeordnete haben diesen anderen Blickwinkel seit langem, denn sie erleben es hautnah bei ihrer Arbeit in Brüssel und Straßburg und bei ihren vielen Reisen, wie Alltag nicht nur anders, sondern auch besser, mitunter sogar viel besser funktionieren kann als in dem nur noch scheinbar perfekten Deutschland.

Besonders krass hat das die rheinische Grünen-Europa-Abgeordnete Alexandra Geese vor Augen, als sie mit Kolleginnen und Kollegen in die Ukraine reiste. Man sah das unendliche Leid der Menschen, fror mit ihnen, war mit ihnen erschüttert vom Ausmaß der Zerstörung. Doch „total beeindruckt“ ist die EU-Politikerin immer noch darüber, „wie gut die Nachtzüge in der Ukraine mitten im Krieg funktionieren“. Die Vierer-Abteile seien hervorragend ausgestattet mit guter Bettwäsche, die auch in kalten Nächten ausreichend wärme. „Und sie haben neben jedem Bett Steckdosen“, schwärmt Geese.

Sie ist leidenschaftliche Bahnfahrerin, hat aber immer größere Probleme, pünktlich nach Brüssel oder Straßburg zu kommen und macht sich so ihre Gedanken darüber, wie der Kampf gegen den Klimawandel in Deutschland gelingen kann, wenn selbst Menschen wie sie daran denken, sich ein Auto zuzulegen, weil die Verbindungen aus dem Rheinland an ihre Arbeitsorte einfach nicht mehr klappen. Wenn sie viele Stunden Verspätung hat oder einfach unterwegs strandet, statt ihren Job im Parlament erledigen zu können.

Aber es geht auch schlimmer, wie sie bei einer Delegationsreise ins Silicon Valley erleiden musste. Wer versuche, vom Apple-Hauptquartier in Cupertino die 50 Kilometer bis zum Flughafen von San Francisco zu kommen, der wünsche sich sofort wieder nach Deutschland zurück. „Selbst im reichsten Teil Amerikas existiert so gut wie kein öffentlicher Nahverkehr“, weiß Geese jetzt. Es gebe keine Zugverbindung, und mit Bussen dauere es wegen des mehrfachen Umsteigens Stunden. Bei frühen Flügen könne man es ganz vergessen, müsse sich einen Mietwagen nehmen oder sei auf Uber angewiesen.

Für den rheinischen FDP-Europa-Abgeordneten Moritz Körner waren die verschiedenen Perspektiven bei Corona das eindrucksvollste Erlebnis. „Hier waren wir abwechselnd im deutschen, belgischen und französischen Corona-System mit völlig unterschiedlichen Vorkehrungen“, erinnert sich Körner. In Belgien habe es zeitweise sogar eine Ausgangssperre ab 22 Uhr gegeben - und wie die Menschen damit umgingen, sei den vollen Straßen noch um 23 Uhr anzusehen gewesen. „In Deutschland erfolgt der Umgang mit Regeln sehr streng; bei den europäischen Nachbarn sehen wir, wie man das auch deutlich lockerer nehmen kann“, betont der Liberale.

Aus dem Blickwinkel der baltischen Länder bekam Körner auch einen ganz anderen Eindruck von der Digitalisierung in Deutschland. „Die haben ihre Chance, ihre Staaten ganz neu aufzubauen, dazu genutzt, von Anfang an die Digitalisierung mitzudenken.“ Seitdem grübelt er darüber, „wie es uns gelingen könnte, einen ähnlichen Neustart hinzukriegen“.

Für den Krypto-Experten und CDU-Abgeordneten Stefan Berger vom Niederrhein sind die Vorbereitungen aufs Metaverse als Kommunikationsort der nahen Zukunft das Gebot der Stunde. Da können sich dann Chirurgen aus verschiedenen Kontinenten mit Spezialbrillen vituell an einem OP-Tisch versammeln, um voneinander schneller und besser zu lernen. Während vor allem US-amerikanische Unternehmer wie Meta und Google in das Metaverse bis zu 500 Milliarden Dollar investierten, habe die Mehrzahl der Deutschen davon bislang nicht mal etwas gehört. „Hier haben wir Nachholbedarf“, weiß Berger nach einen ihn beeindruckenden Trip in die USA.

Fortschritt entscheide sich an der Investitions- und Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft. Angesichts der Milliarden-Investitionen der US-Administration in die High-Tech-Industrie, etwa die amerikanische Chip-Produktion, sorgt er sich um die Zukunft Europas, besonders Deutschlands. Denn inzwischen werde versucht, deutsche Firmen zu akquirieren und einen Standort in den USA anzubieten.

„In den USA existiert keine Lieferketten-Unterbrechung oder kriegsbedingte Inflation, und es gibt günstige Energie aus Atomkraft. Zurück in Deutschland registriert man, dass ohne Not die letzten Atomkraftwerke vom Netz genommen werden“, klagt Berger und klingt dabei fast verbittert. Denn er sieht auch einen „Mangel an Leadership“ beim Auftritt des Kanzlers bei EU-Gipfeln. „Ein starkes Europa ist nicht Kompass der Scholz-Politik“, beklagt Berger. Die Folge seien nicht nur wachsende politische Zweifel an Deutschland, sondern auch wirtschaftliche Folgen. So habe Polen die an die Ukraine gelieferten Waffen nicht durch Nachbestellungen in der EU ersetzt, sondern für etliche Milliarden in Südkorea eingekauft.

„Natürlich geht es uns in Deutschland vergleichsweise gut“, erklärt Berger. Noch sei das Land die Lokomotive Europas, was es auch seiner starken Industrie zu verdanken habe. Dann kommt sein großes Aber: „Es löst großes Kopfschütteln bei meinen EU-Kollegen aus, wenn in Deutschland gesellschaftspolitische Winnetou-Debatten geführt werden, anstatt gesetzliche Maßnahmen zur Stärkung der technologischen Basis zu unternehmen.“

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