Krisen nehmen zu Europäer müssen sich noch wärmer anziehen

Meinung | Brüssel · Mit dem Anschlag auf die Gaspipelines, dem russischen Scheinreferendum in der Ukraine und der angekündigten Annexion nimmt die Krisen-Eskalation weiter zu. Und der Winter kommt erst noch.

 Das Gasleck vor Bornholm.

Das Gasleck vor Bornholm.

Foto: dpa/-

Der vermeintliche Drei-Tage-Krieg Russlands gegen die Ukraine war bereits an Tag eins im Februar für die Welt außerhalb des Kremls unfassbar. 213 Tage später haben die kriegsbedingten Krisen-Auswirkungen Europa nicht nur mit zuvor unvorstellbarer Wucht erfasst. Die Spirale dreht sich auch noch immer weiter. Die Europäer müssen sich angesichts der jüngsten Zuspitzungen in diesem Winter noch wärmer anziehen als ohnehin schon befürchtet.

Dass gleich drei Gasrohre am Grund der Ostsee durch einen Anschlag zerstört werden, gehörte zwar zum Lehrbuch hybrider Kriegsführung. Es kam auch in fiktiven Übungsszenarien immer wieder mal vor. Aber außerhalb von Kino-Thrillern galt dieses Vorgehen als ebenso unwahrscheinlich wie die Vorstellung, dass im Jahre 2022 eine Atommacht mitten in Europa einen Angriffskrieg mit brutalen imperialistischen Motiven beginnen könnte. Die russischen Scheinreferenden in der Ukraine, verknüpft mit Annexionsplänen und Atomwaffendrohungen zeugen davon, dass Putin entschlossen ist, weiter zu eskalieren. Die Maßstäbe für Krisen und deren Beherrschbarkeit verrutschen damit notgedrungen. Extremisten werden zu Kriegsgewinnlern und reiben sich die Hände – tatkräftig angefeuert durch eine russische Propaganda- und Falschmeldungsmaschinerie.

Wie bereits in den Corona-Jahren ab 2020 leidvoll zu beobachten war, ist auch jetzt wieder in Kriegszeiten zu sehen: Europas Strukturen sind nur bedingt krisenfest. Dass eine Pandemie die Welt lahmlegen könnte, war von Experten seit vielen Jahren prophezeit worden. Und doch gab es keine Aktionspläne in den Schubladen, keine Maskenvorräte in den Depots. Dass es fahrlässig sei, Putin zu vertrauen und sich in derartigem Umfang von ihm abhängig zu machen, war von Experten ebenfalls seit vielen Jahren zu Protokoll gegeben worden. Und doch gab es keine systemischen Vorkehrungen, etwa beim Strompreis, der nach wie vor vom letzten notwendigen und teuersten Kraftwerk bestimmt wird. Damit steuert ein ganzer Kontinent in eine Überforderung seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, seiner staatlichen Steuerungsfähigkeit und seiner sozialen Grundlagen hinein.

Gleichzeitig stehen die Verantwortlichen unter dem Eindruck, dass beim Klima der Kipppunkt immer näherkommt. Also jener Augenblick, von dem an die Folgen nicht mehr abzubremsen sind. Schon jetzt häufen sich die Naturkatastrophen in einem zuvor nur schwer vorstellbaren Ausmaß. Um das Klima-Chaos zu verhindern, bräuchten die Völker nicht nur in Europa schon ihre gesamte Kraft, um den Umstieg zur Klimaneutralität zu schaffen. Doch die von Putin provozierte Krise lässt diese Priorität aus dem Blick geraten.

Schon fragen sich Unternehmer, warum sie die immensen Kosten für den Umstieg auf E-Mobilität schultern sollen, wenn die Stromerzeugung in klimaschädlichen Kohlekraftwerken verlängert wird. „Dann kann man es auch gleich lassen“, ist aus Wirtschaftskreisen zu hören, die vor kurzem noch überzeugt von der Notwendigkeit der Wende waren. „Der Winter kommt“ war bislang nur eine fiktive Anhäufung von Krisen in einer prominenten Fernsehserie. Sie wird Realität.

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