Streit um Vorhaben für 2023 Neue EU-Gesetze auf Eis legen?

Brüssel · Turbo oder Moratorium? Das letzte Jahr vor Neuwahlen nutzen die EU-Institutionen gewöhnlich, um noch möglichst viele Vorhaben unter Dach und Fach zu bringen. Doch kann das auch für Kriegs- und Krisenzeiten gelten? Deswegen streitet Brüssel darum, was 2023 kommen soll - und was nicht.

 Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einer Pressekonferenz Mitte Dezember in Brüssel.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einer Pressekonferenz Mitte Dezember in Brüssel.

Foto: AP/Virginia Mayo

In Jahrzehnten gewachsene Arbeitsstrukturen stellen in Brüssel sicher, dass Hunderte von Vorhaben zeitgleich vorankommen. Die EU-Kommission hat sich so breit aufgestellt, dass in den Generaldirektionen die Abteilungen mit ihren vielen Referaten so effizient wie möglich tagein tagaus damit befasst sind, fachliche und juristische Expertise einzuholen, sich mit den Ministerien der 27 Mitgliedsländer abzustimmen, die fachlich versierten Europa-Abgeordneten einzubinden und dann ein Vorhaben nach dem anderen auf den Weg zu bringen. Das ist so gut eingespielt, da bringt so leicht nichts den Gang der Dinge durcheinander. Auch kein Krieg.

Deshalb haben sich zur Jahreswende im Gebirge der Brüsseler Bürokratie zwei gegenläufige Bewegungen gebildet, deren seismische Auswirkungen noch nicht absehbar sind. Werden sich durch die in unterschiedliche Richtungen strebenden Blöcke minimale Risse ergeben, kleinere Beben oder größere Katastrophen? Alle drei Varianten sind denkbar, denn neue Reglementierungen, die in auf Hochtouren laufenden Wirtschaftssystemen in Friedenszeiten möglich sind, um prinzipiell gute Dinge voranzutreiben, können in Krisenzeiten die Talfahrt beschleunigen. Die einen wollen noch schneller noch mehr Regelungen, die anderen ein generelles Moratorium und alles einem Krisen-Check unterziehen.

Für ihre Präsidentschaft hatte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen die Vorgabe gemacht, dass für jede neue bürokratische Vorgabe eine alte abgeschafft werden soll. Im Entwurf eines internen Positionspapiers der EVP-Fraktion zum politischen Jahresanfang 2023 heißt es hingegen: „Stand Dezember 2022 hat die Kommission allein in diesem Jahr 2.103 legislative und nicht-legislative Akte verabschiedet oder geändert, jedoch nur 535 legislative und nicht-legislative Akte aufgehoben oder außer Kraft gesetzt.“ Statt des Vorsatzes von der Leyens nach dem Prinzip „Einer-rein-einer-raus“, sind also für jede ausgeschiedene Regel vier neue hinzugekommen. Das ist Bürokratieaufbau, nicht Bürokratieabbau.

Und das soll trotz anhaltenden Krieges und sich verschärfender Krise im Jahr 2023 munter weiter gehen. 43 neue Initiativen sind bereits angekündigt. Und jede wird von mehreren bis Dutzenden von Rechtsakten begleitet. Da ist zum Beispiel die Umstellung auf den Digitalen Euro, die vom zweiten Quartal an angegangen werden soll und massive Auswirkungen auf die Unternehmensfinanzierung entwickeln kann. Vor allem sorgen sich viele Betriebe um das verschärfte Lieferkettengesetz, das alle Firmen ab 500 Mitarbeitern erfassen und in einzelnen Bereichen auch Betriebe ab 250 Mitarbeiter in die Pflicht nehmen soll. Mit schwerwiegenden Folgen für Berichtspflichten und die Auswahl von Produzenten, Zulieferern und deren Geschäftskontakte. Der Lieferketten-Vorläufer in Deutschland hat nicht nur großzügigere Übergangsregeln als das, was die EU nun vorhat, sondern bezieht sich auch nur auf Firmen ab tausend Mitarbeitern.

Es sind auch eine ganze Reihe von Krisenreaktionen vorgesehen. Sie reichen von einem neuen Design für den Strommarkt über gemeinsame Gaseinkäufe und einer massiven Beschleunigung der Genehmigung von Anlagen zur regenerativen Energieerzeugung bis hin zu Erleichterungen für kleine und mittlere Unternehmen durch eine neue Zahlungsverzugsrichtlinie. Zweischneidig erscheint das Vorhaben, die Energieeffizienz von Gebäuden drastisch zu erhöhen. Derzeit werden in Deutschland jährlich etwa 400.000 Gebäude energetisch saniert. Wenn die Kommissionspläne Wirklichkeit werden, muss sich diese Zahl trotz Fachkräftemangels und begrenzter finanzieller Ressourcen von Wohnungsbesitzern verdreifachen.

Es gehört zu den Eigengesetzlichkeiten der EU-Abläufe, dass die Kommission im letzten Jahr vor den nächsten Europawahlen den Turbo einschaltet. Jedes Kommissionsmitglied will von den Vorhaben, die noch in der Pipeline stecken, so viele wie möglich ins Parlament und in den Rat geben, weil das die letzte Chance ist, dass sie noch ins EU-Gesetzbuch kommen, bevor ein neues Parlament und eine neue Kommission ganz neu anfangen müssen. 2023 markiert dieses Jahr vor den Wahlen im darauffolgenden Mai 2024.

Doch der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsabgeordneten im Europa-Parlament, Markus Pieper, rät dringend zu einem Prioritätenwechsel. „Vor Lieferkettenbürokratie, vor einem Brüsseler Sanierungszwang für Altbauten, vor neuen Ökopflichtlabeln für Industrieprodukte und vor den drohenden Düngeverboten müssen jetzt schnell Gesetzesreformen stehen, die das nackte Überleben großer Teile der europäischen Wirtschaft sichern“, sagt der CDU-Europa-Abgeordnete unserer Redaktion. Der Wirtschaftsexperte verlangt nicht nur neue Regeln für die Energiepreise, sondern erweiterte Vorgaben für die Wasserstoffproduktion. Diese müsse auch Erdgas und Kernkraft umfassen. Seine Zusammenfassung: „Je weniger Ideologiebalast, umso schneller kommen wir aus dem Krisenmodus.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort