Nach dem Brexit So funktioniert der Kosmos Europa

Brüssel · Wie ist nach dem Brexit die Stimmung in den Mitgliedsstaaten der EU? Was sind die Sorgen, Nöte, Hoffnungen? Ein Blick ins europäische Universum.

 Europa als Kosmos mit verschiedenen Umlaufbahnen.

Europa als Kosmos mit verschiedenen Umlaufbahnen.

Foto: Martin Ferl, Anna Radowski

Deutschland:
Eine Forsa-Umfrage ergab wenige Tage vor dem Referendum in Großbritannien, dass die Deutschen über einen EU-Austritt vollkommen anders entschieden hätten als die Briten. 79 Prozent hätten dagegen gestimmt, die EU zu verlassen. Rechtspopulistische und europakritische Kräfte, angeführt von der AfD, werden aber auch in der Bundesrepublik immer lauter.

Frankreich:
Präsident François Hollande sieht nach dem Brexit-Votum Frankreich am Zug. Er will schnell reagieren, um den Populisten des Front National (FN) zu zeigen, was ein Austritt aus der EU anrichten kann. FN-Chefin Marine Le Pen forderte bereits ein EU-Referendum auch für Frankreich. Für einen Ausstieg Frankreichs, den "Frexit", wären derzeit rund 33 Prozent der Franzosen.

Luxemburg:
Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionschef und ehemaliger Premier Luxemburgs, würde einen etwaigen Austritt seines Landes mit allen Mitteln verhindern. Aber im Moment wollen die Luxemburger ohnehin in der EU bleiben. Für das kleine Land könnte der Brexit nun sogar wirtschaftliche Vorteile haben: Finanzexperten gehen davon aus, dass sich der Schwerpunkt für Privatkunden-Fonds von London nach Luxemburg verlagern wird.

Niederlande:
Ginge es nach Rechtspopulist Geert Wilders, würden die Niederlande sofort aus der EU austreten. Ein Antrag über ein entsprechendes Referendum lehnte die überwältigende Mehrheit des Parlaments am Dienstag jedoch ab. Wilders räumte seine Niederlage ein, versprach aber einen neuen Vorstoß: Im kommenden Jahr stehen in den Niederlanden Parlamentswahlen an.

Belgien:
Als Reaktion auf den EU-Austritt Großbritanniens hat der belgische Premierminister Charles Michel einen Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs gefordert — natürlich ohne Großbritannien. Ziel müsse es unter anderem sein, die Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Währungsunion zu vertiefen. Also: mehr Europa statt weniger.

Italien:
Italien ist eins der Schwergewichte in der EU. Wirtschaftlich allerdings hat es den Anschluss verloren; in der Euro-Krise galt auch Italien als Pleite-Kandidat. Vor allem die Massenflucht über das Mittelmeer hat in Italien das Gefühl befeuert, von Brüssel alleingelassen worden zu sein. Ein Referendum über einen EU-Austritt wäre aber verfassungsrechtlich unmöglich.

Österreich:
Das Schweigen der rechten EU-Gegner ist nicht zu überhören, kein Triumphgeheul über den Brexit, keine Rede mehr vom Austritt Österreichs aus der EU. Denn ähnlich wie der britische Brexit-Scharlatan Boris Johnson hat auch FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache keinen Plan für die Zeit nach einem "Öxit". Der neue Kanzler Christian Kern erteilt Referenden über EU-Themen sowieso eine klare Absage.

Portugal:
Die Linksregierung hielt sich lange an die europäischen Vorgaben, die Proteste hielten sich im Rahmen. Das scheint sich derzeit zu ändern. Bevölkerung und Elite sind zwar entschieden pro-europäisch. Vom als aufgezwungen empfundenen Sparkurs wollen sie aber immer weniger hören. Damit sind Spannungen mit Brüssel und Berlin programmiert.

Spanien:
Die Südeuropäer stehen noch ganz im Bann ihrer eigenen Wahl, die keine klare Mehrheit brachte. Unter den Parteien hat aber niemand anti-europäische Töne angeschlagen. Eine populistische Rechte gibt es ausgerechnet im einstigen Lande Francos nicht. Dafür zieht die Wirtschaft endlich an. Das lässt die Spanier hoffen. Sie haben deshalb dem europäischen Musterschüler, dem konservativen Amtsinhaber Rajoy mehr Stimmen gegeben.

Bulgarien:
Bulgarien ist ein ausgesprochen EU-freundliches Land. Das liegt auch daran, dass die Bulgaren nicht viel über Europa wissen. Laut einer Umfrage glauben 88 Prozent der Bevölkerung, der Brexit werde keine Folgen für das Land haben. Premier Bojko Borissow hingegen fürchtet: "Der Austritt Großbritanniens wird die EU schwächen, das hat Folgen für alle."

Rumänien:
"Was hast du getan, David Cameron?" fragte entsetzt Ex-Präsident Traian Basescu. Wie in den meisten osteuropäischen Ländern sorgen sich auch die Rumänen, nach dem Brexit werde weniger Geld aus Brüssel fließen. Der amtierende Präsident Klaus Iohannis rief politische Führer und Wirtschaftsexperten zu sich und mahnte ein "nationales Projekt" an. "Rumänien hat die europäische Idee immer stark unterstützt, aber es bleibt noch viel zu tun."

Slowenien:
Präsident Borut Pahor sorgt sich um die Zukunft der EU und mahnt Reformen an, andernfalls würde "dieser langsame Zerfallsprozess weitergehen". Unter den Regierungen der postkommunistischen Reformländer ist die slowenische die bislang einzige, die sich für einen "Bundesstaat Europa" ausspricht. Das sei, so Pahor, "für ein kleines Land wie Slowenien überlebenswichtig".

Estland:
Estland ist durch und durch pro Europa. Die Euro-Einführung 2011 bestätige den Status Estlands als europäische Nation. EU-Währungskommissar Olli Rehn nannte den Euro-Beitritt damals eine "gerechte Belohnung für ein Land, das sich einer soliden Haushaltspolitik verschrieben hat".

Lettland:
Seit dem Jahr 2012 steht auf der lettischen Webseite für öffentliche Initiativen eine Petition, die Unterschriften für einen EU-Austritt des Landes sammelt. Das Dokument muss vom lettischen Sejm (Parlament) erörtert werden, wenn 10.000 Unterschriften zusammenkommen. Bisher sind es allerdings lediglich 2212.

Litauen:
Bisher konnte sich Litauen auf Großbritanniens harten Kurs in der EU-Russlandpolitik verlassen. In Anbetracht des Brexit-Votums fordert Litauen nun von der EU, die Beziehungen zu London weitestgehend intakt zu halten. "Wir möchten retten, was noch zu retten ist", verkündete der litauische Außenminister Linas Linkevičius.

Irland:
Etliche Nordiren interessieren sich nach dem Brexit-Votum für die irische Staatsbürgerschaft. Das teilte kürzlich die nordirische Postbehörde mit. Der Hintergrund: Nordirland ist Teil des Vereinigten Königreichs. Die meisten dort geborenen Menschen können aber auch Anspruch auf eine Staatsbürgerschaft des EU-Staates Irland erheben. Es zeigt: Gesamt-Irland denkt europäisch.

Malta:
Als ehemalige britische Kolonie hat Malta durch den Brexit einen wichtigen Verbündeten verloren. Dabei galt Maltas Premierminister Joseph Muscat selbst einst als aktiver Gegner der maltesischen EU-Mitgliedschaft galt. Ein Verlassen der Europäischen Union würde aber heute — nach dem Brexit — einem nationalen Selbstmord gleichkommen, so der Premier.

Zypern:
Bis 1960 war Zypern eine britische Kolonie, und noch heute fährt man auf der Insel links. Aber dass der Brexit-Virus auf Zypern überspringt, ist unwahrscheinlich. Die meisten griechischen Zyprer im Süden der geteilten Insel sehen in der EU, der sie seit 2004 angehören, eine Art Schutzmacht gegen die Türkei, die den Inselnorden seit 1974 besetzt hält.

Kroatien:
Kroatien ist derzeit zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um dem Brexit große Aufmerksamkeit zu widmen. Das Adrialand, erst knapp drei Jahre EU-Mitglied, steckt in einer tiefen Regierungskrise. Premier Tihomir Oreskovic, nach dem Misstrauensvotum nur noch geschäftsführend im Amt, sorgte sich bloß um britische Touristen, denen der Urlaub an der Adriaküste wegen der Pfund-Schwäche zu teuer werden könnte.

Griechenland:
Die Schuldenkrise hat das Klima zwischen Griechenland und der Europäischen Union vergiftet. Viele Griechen sehen in der EU eine Art Kolonialmacht, die ihnen immer neue Sparprogramme aufnötigt. Nur noch 27 Prozent der Griechen haben eine gute Meinung von der EU, gegenüber 63 Prozent vor fünf Jahren. Aber austreten möchten die meisten Griechen deshalb nicht — bisher.

Slowakei:
Im Prinzip sind die Slowaken gerne in der EU; die Unzufriedenheit trifft eher die eigene Regierung, die sie verdächtigen, Fördergelder aus Brüssel in korrupte Taschen umzulenken. Die gestern begonnene Gastgeberrolle der Slowakei für den EU-Ratsvorsitz im zweiten Halbjahr gibt Ministerpräsident Robert Fico die Gelegenheit einer Imagepolitur.

Tschechien:
Für den EU-feindlichen Präsidenten Milos Zeman sind nicht die Brexit-Prediger Schuld am britischen Desaster, sondern "unfähige EU-Eliten". Einen richtigen "Czexit" wollen bisher aber nur Altpräsident Vaclav Klaus, die antieuropäischen Kommunisten und die nach AfD-Vorbild neugegründete Rechtspartei APC.

Polen:
Die konservative Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" will die EU zwar reformieren, aber nicht verlassen. Schließlich profitiert Polens Wirtschaft enorm von der EU. Die nationalistische Bewegung, als Teil der Partei Kukiz15 auch im Parlament vertreten, sammelt allerdings Unterschriften für eine Volksabstimmung, bei der die Bürger über die Aufnahme von Flüchtlingen entscheiden sollen.

Ungarn:
Es scheint, als habe sich der zwanghafte EU-Gegner Viktor Orbán in einen glühenden Europäer verwandelt. Der Brexit, dozierte er, sei eine Lehre "für uns Europäer, die wir in der EU sind und bleiben wollen." Orbán weiß, dass seine betont nationalistische Politik ohne die unterstützenden Milliarden aus Brüssel wohl kaum finanzierbar wäre.

Schweden:
Obwohl fast alle schwedischen Parlamentsparteien der EU gegenüber positiv eingestellt sind, wird nach dem Brexit eine Kettenreaktion befürchtet. 36 Prozent der Schweden würden im Fall eines eigenen Referendums für einen EU-Austritt stimmen und nur 32 Prozent für einen Verbleib (der Rest enthielt sich), ergab eine Umfrage. Vor allem die bislang auf das Thema Einwanderung setzenden Schwedendemokraten könnten nun mit EU-Feindlichkeit ein weiteres populäres Thema hinzugewinnen.

Finnland:
Im Euroland Finnland sieht man den Austritt der Briten gelassen, trotz der dortigen Wirtschaftskrise. Mächtige EU-Gegner gibt es derzeit nicht im Land. Der bürgerliche Ex-Premier und derzeitige Finanzminister Alexander Stubb steht für einen weichen Kurs den Briten gegenüber. Er hofft, dass die Briten ähnlich wie Norwegen ein enges Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum bleiben.

Dänemark:
Bereits bei der Europawahl 2014 haben die Dänen der EU eine klare Absage erteilt, indem sie die rechtspopulistische "Dänische Volkspartei" (DF) noch weit vor den Sozialdemokraten zur stärksten Kraft wählten. Auf nationaler Ebene ist die DF zweitstärkste Fraktion. Nun fordern die Rechtspopulisten, dass auch Dänemark ein Referendum über den EU-Austritt abhalten muss.

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