Interview mit Michel Reimon "Die Menschen haben alles verloren, sie suchen einfach nur Schutz"

Berlin · Der österreichische Grünen-Abgeordnete im Europaparlament, Michel Reimon (44), ist in einem der Züge mitgefahren, in denen Flüchtlinge von Österreich nach Deutschland gelangten. Wir sprachen mit ihm über seine Fahrt.

Herr Reimon, Sie sind am Montag von Wien nach München in einem Flüchtlingszug mitgefahren. Wie kam es dazu?

Reimon Ein Bekannter hatte mich angerufen und als politischer Beobachter spontan zum Wiener Bahnhof gebeten. Dort waren mehr als 500 Flüchtlinge in einen leeren Zug nach München eingestiegen, während Züge aus Budapest auf dem Weg nach München von den österreichischen Behörden gestoppt wurden. Viele der Menschen hatten Sorge, dass die Polizei auch diesen Zug wieder räumen würde. Fünf Minuten vor Abfahrt bin ich dann einfach eingestiegen. Wenn ein Abgeordneter vor Ort ist, verhält sich die Polizei vielleicht anders, dachten wir.

Ist die Rechnung aufgegangen?

Reimon Es gab gar keine Kontrollen, wir wurden nicht aufgehalten und sind in Rosenheim ausgestiegen. An meiner Anwesenheit lag es aber sicher nicht, dass der Zug auch die deutsche Grenze passieren konnte. Und die Menschen haben alle Tickets gekauft — entweder am Bahnsteig oder beim Schaffner. Wenige Tage zuvor war ja erst der Kühl-LKW mit mehr als 70 toten Flüchtlingen nahe der Strecke gefunden worden. Mich macht das sehr nachdenklich: Die Menschen kommen für wenige Euro über die Grenze, wenn man sie nur lässt. Wenn man sie nicht lässt, suchen sie aus Verzweiflung einen verdeckten Weg, zahlen viel Geld an Schlepper, und manche sterben auf der Fahrt elendig.

Welche Eindrücke haben Sie von den Menschen im Zug gewonnen?

Reimon Die meisten Flüchtlinge im Zug kamen aus Syrien und dem Irak. Ich habe mit vielen Familien gesprochen, es gab aber auch Menschen, die allein unterwegs waren. Besonders erschüttert haben mich die Erzählungen eines Familienvaters, der mir auf seinem Handy Bilder aus Syrien gezeigt hat. Darauf waren die Leichen von zwei seiner Kinder zu sehen. Die Mädchen hatten den Bürgerkrieg nicht überlebt. Während er davon erzählte, hielt er im Zug eine andere Tochter auf dem Arm.

Sie haben einige seiner Bilder bei Facebook veröffentlicht. Warum?

Reimon Der Mann hat mich ausdrücklich darum gebeten. Er wollte, dass die Öffentlichkeit in Europa mehr über den Krieg erfährt.

Wusste er über die Regeln der Flüchtlingspolitik in Europa Bescheid?

Reimon Kaum. Viele der Menschen, mit denen ich gesprochen habe, kennen die Regeln von Dublin und dem Ersteintritt in die EU nicht. Und was ich im Zug auch gelernt habe, ist, dass die Menschen aus Syrien und dem Irak kaum eine Ahnung von den Unterschieden zwischen Deutschland, Österreich, den Niederlanden oder Dänemark haben.

Trotzdem wollen doch die meisten nach Deutschland.

Reimon Ja, weil ihnen Deutschland noch aus der Heimat als ein reiches, starkes Land ein Begriff ist. Was aber kaum eine Rolle spielt, sind die Feinheiten der Asylpolitik. Etwa, dass Deutschland für Syrer die Dublin-Regeln außer Kraft gesetzt hat. Auch die ausländerfeindlichen Übergriffe in Deutschland waren kein Thema im Zug. Die Menschen haben alles verloren, teils ihre eigenen Kinder. Sie suchen einfach nur Schutz.

Jan Drebes führte das Interview.

(jd)
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