Parlamentsentscheidung in Brüssel Mehrheit für verschärfte Lieferkette in der EU

Brüssel · Die EU will Menschenrechte und Klimaschutz künftig entlang der gesamten Lieferkette von Produkten weltweit sicherstellen und dafür die Unternehmen in die Pflicht nehmen. Das Parlament verschärfte dazu einen Vorschlag der Kommission und löste damit heftige Kritik, aber auch Begeisterung aus.

Blick in die Produktionshalle einer Textilfabrik in Bangladesch.

Blick in die Produktionshalle einer Textilfabrik in Bangladesch.

Foto: dpa/Nazrul Islam

„Sabotage“ rufen die Befürworter ihren Gegnern zu, und dass sie Menschenrechte und Klimaschutz „nicht ernst meinen“. Die nennen das „Diffamierung“ und halten der anderen Seite vor, „irrwitzig an der Realität vorbei“ zu agieren. Das sind die Nachhutgefechte zu der an diesem Donnerstag mit einer 366:225-Mehrheit angenommene Entscheidung des Europa-Parlamentes zur neuen Lieferkettengesetzgebung. Wenn dafür die alte Erkenntnis gilt, wonach viel Qualm auch auf viel Feuer verweist, dann brennt die Brüsseler Hütte lichterloh.

Seit einem Jahrzehnt verfolgen viele europäische Staaten das Prinzip der Lieferkette. Danach sollen die Verkäufer von Waren in Europa Mitverantwortung für die Produktionsbedingungen in der Dritten Welt nehmen. In Deutschland hat noch die alte große Koalition einen Kompromiss gefunden und ein Lieferkettengesetz beschlossen, das Anfang diesen Jahres in Kraft trat und alle Betriebe ab 3000 Mitarbeitern in die Pflicht nimmt. Als die Verhandlungen im Europa-Parlament um eine EU-weite Regelung an Fahrt aufnahmen, machten bald Gerüchte die Runde, die seinerzeit unterlegene Seite wolle nun über den Umweg Brüssel deutlich schärfere Bedingungen durchsetzen. Das ist an diesem Donnerstag in der Parlaments-Positionierung gelungen: Nun werden bereits alle Betriebe ab 150 Mitarbeitern erfasst.

Sollte die Vorstellung des Parlamentes tatsächlich ins Europäische Gesetzblatt kommen, müsste Deutschland seine Bestimmungen entsprechend nachschärfen. Doch davor stehen noch Verhandlungen mit dem Rat der Regierungsvertreter aus den Mitgliedsländern. Die hatten sich zunächst nur auf eine Größenordnung von 500 Mitarbeitern verständigt, wollten nur bei Branchen mit hohem Risiko, wie etwa der Textilindustrie, auf 250 runter. Die genaue Zahl ist also noch offen und wird vermutlich erst in Jahren die Wirtschaft erreichen.

Doch dort kommen auch schon bei der deutschen 3000er Variante erstaunliche Erkenntnisse nach den ersten Monaten der Gesetzesanwendung zustande. So berichten pünktlich zur Beschlussfassung in Brüssel die Betriebe der Metall und Elektroindustrie laut einer Umfrage von Gesamtmetall, dass auch schon Betriebe ab 1000 Mitarbeitern zu 96 Prozent betroffen sind, Betriebe ab 250 Mitarbeitern zu 86 Prozent und Betriebe bis 250 Beschäftigten ebenfalls zu 70 Prozent. Die Erklärung liegt in der Eigenart der Kette: Wenn alle Glieder den Nachweis vorhalten müssen, dass ihr Anteil am Entstehen eines Produktes die Bedingungen bei Klima und Menschenrechten erfüllt, sind natürlich auch die kleineren Zulieferfirmen betroffen, müssen auch sie beträchtliche fünfstellige Beträge an zusätzlichen Bürokratiekosten stemmen.

Vor allem die deutschen EVP-Abgeordneten von CDU und CSU hatten sich gegen den Parlamentsentwurf gestellt. Für deren Chefverhandler Axel Voss eine „schwierige Situation“. Einerseits fühlte er sich den Zielen bei Klima und Menschenrechten verpflichtet, andererseits hatte er die Belastung für die Wirtschaft im Hinterkopf. „Das Gesetz ist ein bisschen aus der Zeit gefallen“, sagte er nach der Abstimmung. Pandemie, Krieg und ein expandierendes China hätten die Bedingungen verändert, und auch die vielen schon durch andere EU-Gesetze eingeführten Berichtspflichten für die Firmen müssten beachtet werden.

Dagegen herrschte beim Verhandler der SPD, Tiemo Wölken, „sehr viel Freude“, dass es nach dreijähriger intensiver Debatte gelungen sei, eine gemeinsame Position des Parlamentes zu finden und nun in die Verhandlungen mit dem Rat zu gehen. Er versuchte die Wirtschaft mit den Worten zu beruhigen, dass man „nicht sofort haftbar gemacht“ werde, wenn man „mal was übersehen“ habe. Aber es müsse schon der Nachweis gelingen, sich intensiv bemüht und Vorsorge getroffen zu haben. Und: Wer von Missständen weiß, muss diese abstellen.

Die Grünen-Verhandlerin im Handelsausschuss, Anna Cavazzini, lobte den Beschluss als „wegweisend“. Er werde „Umwelt- und Sozialdumping in unseren Lieferketten einen Riegel vorschieben“. Damit übernehme die EU endlich Verantwortung für die globalen Auswirkungen ihres Handelns. Linken-Chef und Europa-Abgeordneter Martin Schirdewan hob hervor, dass das Gesetz die Straflosigkeit für große Unternehmen, die Menschen und Natur ausbeuteten, beenden könne. „CDU und CSU sabotieren das EU-Lieferkettengesetz auf Geheiß der Konzernlobbyisten und zeigen einmal mehr, dass die Selbstbezeichnung ,christlich‘ ein dreister Etikettenschwindel ist“, sagte Schirdewan. Dagegen versagten sich auch die FDP-Europa-Abgeordneten dem Entwurf und kritisierten, dass die staatliche Verantwortung für Menschenrechte und Umweltschutz auf Unternehmen abgewälzt werde.

In Deutschland nannte der Verband der Chemischen Industrie das Gesetz „nicht praxistauglich“. Der Verband der Familienunternehmen rief dazu auf, das „Bürokratiemonster“ zu stoppen. Der WWF würdigte hingegen die Entscheidung als „Meilenstein auf dem Weg zu einer neuen Ära der Unternehmensverantwortung in Europa“.

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