Eine von 705 Europa-Abgeordneten Mehr Einfluss als vermutet - hinter den Kulissen der EU

Brüssel · Sie ist eine von 705 Europa-Abgeordneten. Alexandra Geese kam vor drei Jahren aus Bonn ins Parlament nach Brüssel und Straßburg. Ihre Erfahrungen aus dem Innern der Macht sind so ganz anders, als man sich das von außen gewöhnlich vorstellt.

 Alexandra Geese bei einem Debatten-Beitrag im Europa-Parlament in Straßburg.

Alexandra Geese bei einem Debatten-Beitrag im Europa-Parlament in Straßburg.

Foto: European Parliament/Brigitte HASE

Der erste warme Tag in Brüssel, zwischen zwei Terminen kurz Zeit für einen Espresso in der Sonne auf der Place du Luxembourg direkt vor dem Eingang des Europa-Parlamentes. Natürlich ist es ein Espresso, denn Alexandra Geese hat 22 von 54 Lebensjahren in Italien gelebt, liebt das Land und die Menschen immer noch. In Bologna hat sie Politik-, in Venedig Sozialwissenschaften studiert. Nun sitzt die Bonner Grünen-Politikerin nicht nur als deutsche Abgeordnete im Europa-Parlament, sondern ist auch Ansprechpartnerin für alle Grünen in Italien. Die haben derzeit keine eigenen Leute in Straßburg und Brüssel. Auch egal, sagen viele Vorurteile, das EU-Parlament habe sowieso nix zu sagen, und das einzelne Mitglied schon gar nicht. Geese steht für das Gegenteil.

„Geese gegen Google“, titelt das renommierte M.I.T.-Wissenschaftsmagazin auf dem Höhepunkt des Kampfes um die EU-Digitalgesetzgebung. Die Frau aus Bonn ist federführend an den Verhandlungen beteiligt und weiß danach, dass die Vorstellung vom machtlosen Europa-Parlament einfach nicht stimmt. „Ich war überrascht, wie viel Einfluss auch das einzelne Mitglied hat“, erinnert sie sich. Im Digitalgesetz fänden sich nun viele ihrer Ideen wieder. „Zum Beispiel ist jetzt die Pflicht zur Risikobewertung für große Plattformen sehr viel weiter, als es die Kommission vorgesehen hatte“, erläutert die Digitalexpertin der Europa-Grünen.

Auch in diesem Projekt gehe es darum, die Klimakrise abzumildern und die Demokratie gegen Hass, Desinformation und Manipulation zu verteidigen. „Es führt zu einer ungeheuren Polarisierung, wenn Meinungen aufgrund des Geschäfsmodells von Google, Meta und Co. umso sichtbarer werden, je radikaler und populistischer sie sind, wenn falsche Inhalte höher bewertet werden als Fakten“, erklärt Geese und fasst zusammen: „Das gefährdet unsere Demokratie.“ Die Macht der Abgeordneten wird, wie dieses Beispiel zugleich zeigt, auch von den Lobbyisten nicht unterschätzt. Da sei „enorm viel Geld“ ausgegeben und auch „mit unlauteren Methoden vorgegangen“ worden, um die Abgeordneten zu beeinflussen. Dafür seien sogar Pseudo-Organisationen aufgeboten worden. „Die Lobbyschlacht war erschreckend“, berichtet Geese.

Wie sie sich in der Schlacht schlug, muss auch die eigene Truppe beeindruckt haben, denn sie machten sie danach zur stellvertretenden Vorsitzenden ihrer Fraktion im Europa-Parlament. Das hätte sie vor wenigen Jahren wohl selbst nicht für möglich gehalten, als sie zwar intensiv die Arbeit der Parlamentarier begleitete, aber der anderen Seite der Scheibe aus - als hauptberufliche Konferenzdolmetscherin. Ihre Gefühle, als sie zum ersten Mal nicht in der Kabine der Übersetzer, sondern im Plenarsaal saß? „Einerseits einschüchternd“, denn als Tochter einer Friseurin sei sich nicht in dem Bewusstsein aufgewachsen, irgendwann über die Geschicke Europas mit entscheiden zu können. „Andererseits ermutigend“, weil in der Politik mehr Menschen aus Handwerk und Arbeiterschicht gebraucht würden.

Nun gehört es in der neuen Funktion zu ihrem Job, grüne Positionierungen europaweit mit zu entwickeln und sichtbar zu machen. Kann sie deshalb auch erklären, warum ausgerechnet die aus der Pazifistenbewegung hervorgegangenen Grünen so wenig innerparteiliche Konflikte um den Krieg Russlands haben, während etwa die Linken regelrecht zerrissen werden? Geese kommen die Bilder in den Kopf, wie sie als Jugendliche selbst in Bonn auf der Hofgartenwiese gegen die Nato-Nachrüstung protestiert. Und sie denkt dann an ihre Reise ins ukrainische Kriegsgebiet. Die Eindrücke hätten sie sehr bewegt. „Das hat mich darin bestärkt, dass die Ukraine die Demokratie verteidigt und jede Unterstützung gegen Putins Angriffskrieg braucht“, stellt Geese fest.

Die Grünen hätten in der Vergangenheit immer wieder sehr intensive Debatten darüber geführt, was ihre Werte seien und wie diese konkret im politischen Handeln zum Ausdruck kämen. „Vielleicht haben wir deshalb heute weniger Probleme, bei der Unterstützung der Ukraine gegen Russland auf der richtigen Seite zu stehen“, vermutet die rheinische Abgeordnete vier Jahrzehnte nach den Massenprotesten auf der Hofgartenwiese.

Im nächsten Jahr will Geese erneut antreten. Schließlich sei auch im Digitalbereich noch sehr viel zu tun. „Bisher hat die Digitalisierung der Umwelt mehr geschadet als genutzt - zum Beispiel durch einen viel höheren Stromverbrauch“, gibt die Grüne zu bedenken. „Das will ich ändern und Nachhaltigkeit bei der Digitalisierung verankern.“ Davor stehen die in einem Monat beginnenden Entscheidungen der Grünen und im Juni nächsten Jahres die Europa-Wahlen. Ihre Hoffnung ist, dass dann auch Italien mit eigenen Grünen-Politikern vertreten ist. Regierungschefin Giorgia Meloni gebe sich zwar in Europa gemäßigt, fahre in der italienischen Innenpolitik aber einen Kurs der Hetze gegen Minderheiten, warnt Geese. Die Gefühle der Italien-Liebhaberin sind eindeutig: „Das tut mir extrem weh.“

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