Martin Sonneborn über den Brüssel-Alltag „Es gibt viele Leute, die ich nicht grüße, obwohl ich wohlerzogen bin“

Brüssel · Der frühere Chefredakteur des Satiremagazins „Titanic“ im Europaparlament – kann das gut gehen? Ein Gespräch über fünf Jahre in Brüssel, Arschlöcher im Plenum, Uploadfilter und den nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Reul.

Martin Sonneborn (53) hat das Buch „Herr Sonneborn geht nach Brüssel“ geschrieben, das am 7. März bei Kiepenheuer & Witsch erscheint.

Martin Sonneborn (53) hat das Buch „Herr Sonneborn geht nach Brüssel“ geschrieben, das am 7. März bei Kiepenheuer & Witsch erscheint.

Foto: Thierry du Bois/laif

Dieses Gespräch ist ein Experiment. Kann es eine Berechtigung haben, sich über das erfolgreichste Friedensprojekt der Geschichte, die Europäische Union, lustig zu machen? Seit fünf Jahren sitzt der Satiriker Martin Sonneborn für die Partei „Die PARTEI“ im Europäischen Parlament. Er soll uns diese Frage beantworten und tritt erstaunlich ernsthaft auf. Doch zur Begrüßung fragt er seine beiden Gäste erst einmal: „Wer ist der Redakteur, wer der Praktikant?“

Herr Sonneborn, ist die EU ein Witz?

SONNEBORN (räuspert sich) Auf keinen Fall. Sie hat natürlich viele komische Aspekte, aber sie ist kein Witz. Sonst würden wir uns auch nicht so ernsthaft mit ihr auseinandersetzen.

Weshalb eignet sich das EU-Parlament für die satirische Betrachtung?

SONNEBORN Es war nicht mein dezidiertes Vorhaben, im EU-Parlament zu sitzen, das Mandat kam ja überraschend für uns. Und jetzt arbeite ich halt mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln, die ich bei „Titanic“ und „Heute Show“ gelernt habe.

Ein Kellner stellt einen Teller vor Sonneborn, das Tagesgericht zur Ansicht für die Gäste. Sonneborn: „Thanks a lot.“ Kellner: „It’s cold.“ Sonneborn: „Vieles in Europa läuft nach diesem Prinzip, ohne Sprache, zum drauf zeigen.“

SONNEBORN Ich interessiere mich für die skurrilen und unseriösen Seiten, und hatte das Glück, dass ich fraktionslos geblieben bin. Ich saß also zusammen mit polnischen Monarchisten, ungarischen Antisemiten, Udo Voigt von der NPD, Marine Le Pen und FPÖ-Leuten. Für einen „Titanic“-Redakteur ist es ein Traum, solche Gestalten ohne falschen Schnurrbart studieren zu können.

Warum haben Sie sich gegen eine Fraktion entschieden?

SONNEBORN Wir haben ernsthaft darüber diskutiert und tatsächlich Fraktionsverhandlungen geführt. Außer Udo Voigt, den wollte wirklich niemand, sind alle deutschen Kleinparteien in Fraktionen untergekommen. Wir hatten Verhandlungen mit den Linken, mit den Grünen. Bei den Liberalen hätten wir auch eintreten können, es gibt ja noch ein paar echte Liberale in Europa, also nicht dieses FDP-Gesocks. Es hat sich schnell als gut herausgestellt, dass ich fraktionslos geblieben bin. Ich habe zum Beispiel öfter Gelegenheit, im Plenum zu sprechen. Allerdings musste ich die letzte „State of the Union“-Rede vor der Tür des Plenarsaals halten, weil ich keine Redezeit erhalten habe.

Warum haben Sie keine Redezeit bekommen?

SONNEBORN Das wird schon sehr gezielt zugeteilt. Zumindest am Abend vor der „State of the Union“-Sitzung hat man eigentlich immer Redezeit zu politischen Themen minderer Bedeutung, aber beim letzten Mal hat nicht einmal das geklappt. Deswegen musste ich lachen, als letztens der Generalsekretär von sich aus fragte, ob wir nicht beim Merkel-Besuch im Europaparlament Redezeit haben wollten. Kurz vorher hatten wir noch extrem gekämpft und keine bekommen, und jetzt liefern sie mir eine Minute mit Merkel auf dem Silbertablett. Mir war natürlich klar, dass ansonsten Udo Voigt die Minute bekommen hätte, weil er der andere deutsche fraktionslose Abgeordnete ist.

Das hört sich so an, als würde die Redezeit willkürlich verteilt.

SONNEBORN Das sieht verdammt so aus, ja. Wir haben mit dem französischen Generalsekretär eine Auseinandersetzung gepflegt, weil Bruno Gollnisch, rechtsradikaler Freund von Jean-Marie le Pen, ein alter Japanologe, der sehr justiziable Ansichten zum Holocaust vertritt, die Redezeit für die Fraktionslosen beantragte, als Hollande und Merkel zusammen in Straßburg waren. Eigentlich hätten sie uns zugestanden, weil ich bis dahin weniger Redezeit hatte als er. Aber der Generalsekretär zauberte dann immer neue Vorschriften aus dem Hut, die letztlich dafür sorgten, dass die Redezeit an den Franzosen ging.

Wie ist der Kontakt zu Udo Voigt denn so?

SONNEBORN Ich hatte die Verwaltung um einen Sitzplatz hinter ihm gebeten, damit ich ihn fünf Jahre lang beobachten kann, aber sie haben Voigt hinter mich gesetzt. Wenigstens hat er jetzt den Sitzplatz, der auf 88 endet. Ich habe dann mal seinen Schreibtisch inspiziert und festgestellt, dass er eine Zeitung unterm Tisch hatte, die ich vom Format her für die „Junge Freiheit“ gehalten habe, die sich dann aber als „taz“ herausstellte. Ich dachte, der Mann ist senil, aber er hatte einen Bericht über Hakenkreuze in Griechenland aufgeschlagen, und die Seite 18. Die 18 ist ja in rechten Kreisen positiv besetzt. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, spreche ich ihn an: „Na Voigt, immer noch in der Politik?“ – immer derselbe Satz. Und er hat jedes Mal eine Dummheit geantwortet.

Wie wirkt er auf Sie?

SONNEBORN Mich interessierte, ob die NPD noch ernst zu nehmen ist. Ich habe Voigt vorgeschlagen, in die AfD zu wechseln, weil das doch die moderne Form seines Ladens sei. Aber seine Fähigkeit sich auszudrücken, wurde immer dünner. Udo Voigt ist mittlerweile komplett senil. Die NPD stellt auf dieser Ebene keine Gefahr mehr dar.

Udo Voigt, polnische Monarchisten, ungarische Antisemiten. Fallen Sie als Satiriker noch auf?

SONNEBORN Kaum. Ich werde von meinen Nachbarn auch nicht als Satiriker wahrgenommen. Es gibt hier einige Abgeordnete mit Lebensläufen, die vom typischen CDU-Hinterbänkler abweichen. Vor allem die Ausländer begreifen nicht unbedingt, was ich mache.

Weil die Leute das nicht verstehen?

SONNEBORN Ich würde eher sagen, im Ausland interessiert das niemanden. Deutsche Abgeordnete schon eher. Wer souverän ist und über einen Funken Humor verfügt, hat auch keine Probleme mit mir, wir haben Kontakte in fast alle Parteien. Allerdings warnt die konservative Fraktion ihre Praktikanten davor, unsere Veranstaltungen zu besuchen: Vorträge zur EU von Jürgen Kuttner oder Georg Schramm.

Von deutscher Seite werden sie als Satiriker gesehen, alle anderen betrachten Sie als gewöhnlichen EU-Parlamentarier?

SONNEBORN Ja, das ist auch das, was Udo Voigt und meine Lieblingskollegin, die jetzt im Bundestag sitzt, Beatrix von Strolch (gemeint ist Beatrix von Storch, d. Red.), an Brüssel so schätzen: Dass es hier eine wohlerzogene, gebildete und hochbezahlte Verwaltungsangestelltenschaft gibt, die höflich und nett zu jedem ist. Man steht als deutscher Rechtsradikaler nicht in Gefahr, hier auf die Fresse zu bekommen.

Fast fünf Jahre sind Sie nun in Brüssel. Hat es was gebracht?

SONNEBORN Ja, das würde ich sagen.

Haben Sie Ihre Aufgabe erfüllt?

SONNEBORN Es war ja anfangs nicht klar, ob das hier funktionieren würde. Jetzt kann ich sagen: ja, es funktioniert. Auf unterschiedlichen Ebenen. Wir erhalten viele Reaktionen, junge Leute politisieren sich über lustige Plakate und Videos. Das halte ich für enorm wichtig, dass man als Pubertierender in Cottbus, Wittenberg oder Dortmund von der PARTEI ein Gegenangebot zu den rechten Strukturen serviert bekommt, die dort Überhand nehmen. In Zeiten, in denen es kein Geld für Jugendzentren und Kultur gibt, bieten wir den Leuten etwas an. Viele entwickeln darüber ein Interesse für Politik. Und sogar für das Europaparlament.

Und konkret?

SONNEBORN Ich habe lustigerweise entscheidend zur wichtigsten Datenschutzverordnung für Europa beigetragen, E-Privacy, über die in Deutschland nicht berichtet wird, weil da Interessen von Zeitschriftenverlegern ganz massiv berührt werden – ich weiß nicht, wie das bei der „Rheinischen Post“ ist. Es geht darum, dass Sie nicht offline getrackt werden dürfen, dass Ihre Kommunikation über Messengerdienste wie Whatsapp nicht inhaltlich analysiert wird und Ihre Daten nicht komplett abgeschöpft werden. Im Moment wird alles, was Sie im Netz tun, komplett ausgewertet. Um solche Sachen kümmert sich die E-Privacy-Verordnung. Als klar war, dass es in der entscheidenden Abstimmung an einer einzigen Stimme hängen würde, habe ich mich mit einem schmutzigen Geschäftsordnungstrick in den Libe-Ausschuss gemogelt, dort Udo Voigt ersetzt, und die eine, fehlende Stimme beigesteuert. So wurde E-Privacy beschlossen – und wird jetzt seit über einem Jahr von den 28 Staatschefs im Rat blockiert. Politisch haben wir damit viel mehr erreicht, als möglich war: Google, Facebook, Telekom, Vodafone, Microsoft, Mathias Döpfner und die komplette Internet-Werbeindustrie haben getobt.

Sie sprachen gerade von Aufmerksamkeit erregen. Relativ bekannte Parlamentarier wie Herbert Reul…

SONNEBORN (lacht)

… oder Martin Schulz waren ja zumindest einem interessierten Publikum bekannt.

SONNEBORN Chulz ja (gemeint ist Schulz, d. Red.).

Reul wohl nur den Nordrhein-Westfalen unter uns. Würden Sie sagen, dass Sie jetzt der bekannteste Abgeordnete im EU-Parlament sind?

SONNEBORN Das weiß ich nicht. Julia Reda (Abgeordnete der Piraten, Anm. d. Red.) ist durch ihren Einsatz gegen die sogenannten „Uploadfilter“ sehr bekannt. Elmar Brocken (CDU, gemeint ist Elmar Brok, d. Red.) habe ich in Kreisen berühmt gemacht, in denen er vorher nicht bekannt war. Aber Martin Chulz war ein Phänomen, weil er das EU-Parlament ins Bewusstsein der Leute gerückt hat. Antonio Tajani (aktueller Parlamentspräsident, Anm. d. Red.) dagegen ist ein eher halbseidener Chef, ein langjähriger Gefährte von Berlusconi. Was Chulz für das Parlament geleistet hat, kann man nicht groß genug herausstellen. Und Herbert Reul? Nun ja, er ist einer der nettesten und dümmsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Herzlichen Glückwunsch zu einem solchen Innenminister.

Warum?

SONNEBORN Selbst in Bergkarabach (mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region im Südosten des Kleinen Kaukasus, d. Red.) lacht man über diesen Mann. Da hat mein Büroleiter Dustin Hoffmann vor dem Menschenrechtsbeauftragten der Regierung… (Hoffmann schaltet sich ein)

HOFFMANN Ich habe ihn nach aktuellen Problemen gefragt. Da nannte er Polizeigewalt und sagte, dass sie jetzt eine Kennzeichnungspflicht für Polizisten eingeführt haben. Ich habe ihm dann erzählt, dass Nordrhein-Westfalen die Kennzeichnungspflicht für Polizisten gerade abgeschafft hat. Da hat er gefragt: „Wieso denn das?“ Da hab ich gesagt: „Weil Herbert Reul der Polizei den Rücken stärken wollte.“ Und dann hat er für eine halbe Minute schallend gelacht. Bergkarabach lacht über die Menschenrechtssituation in Nordrhein-Westfalen.

SONNEBORN Dank Herbert Reul.

Haben Sie den Mann persönlich kennengelernt?

SONNEBORN Klar. Ich habe viele Kollegen kennengelernt, weil sie in Interviews über mich gesprochen haben. „Pannen-Jo“ Leinen zum Beispiel, ein etwa 135 Jahre alter Sozialdemokrat, der seinen Spitznamen von Oskar Lafontaine verpasst bekommen hat. Ich hatte noch nie von ihm gehört, las aber in einem Interview, dass er über mich sagte, ich sei „als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet“. Und dass ich möglicherweise Politik betreiben würde auf einer Ebene, die sich seiner Wahrnehmung entzieht. Und das stimmt ja letztlich auch, er begreift gar nicht, was wir hier machen. Einer der illiberalsten Demokraten, die wir hier haben. Und Herbert Reul schrieb auch gleich etwas, dass ich nie bei Sitzungen sei, oder so. Bei den ersten drei, vier Sitzungen der Korea-Delegation, in der wir zusammen waren, ist er aber gar nicht aufgetaucht. Und irgendwann kam er dann an. Das war ganz niedlich eigentlich, ein total netter, freundlicher, älterer Herr.

Hat er Sie erkannt?

SONNEBORN Ja. Ich habe ihn dann nach Nordkorea gefragt, ob er mal da gewesen sei. Er bejahte. Ich fragte: Wann? Er: Äh, ich weiß nicht, ich frag mal die Sekretärin, die muss das ja wissen, die war ja mit. Die Sekretärin wusste es dann. Sommer 2013. Als ich ihn dann fragte, wie es war, erklärte er mir, dass er nicht gern reise, aber wenn man mal reise, dann lerne man auch immer was. Und das sei total interessant gewesen, armes Land, aber die würden das schaffen da. Er hätte sich mit einer jungen Dame unterhalten, hübsch, die hätte gesagt: Wir schaffen das. Und die war die Tochter irgendeines hohen Generals, die hätte das also wissen müssen, sagte Reul. Das ist nett, aber inhaltlich durchaus aussagekräftig. Irgendwann habe ich im Ausschuss festgestellt, dass Reul nicht mehr kommt und Innenminister in NRW wird, da war ich schon recht schockiert. Das zeigt, wie dünn die Personaldecke der CDU in Nordrhein-Westfalen ist. Oder gibt es andere Gründe für seine Berufung?

Das wissen wir leider nicht.

HOFFMANN Bei Herbert Reul muss man sagen, dass er wohl auch so eine Art Hoffnungsboje für die Bevölkerung sein soll. Wenn man sieht, dass einer wie Reul Innenminister wird, dann zeigt das, dass wirklich jeder alles schaffen kann.

Teller klirren, irgendjemand schüttet Rotwein in Gläser. Interessierte Besucher schauen sich nicht den Abgeordneten Sonneborn an, sondern das Tagesgericht vor ihm.

Leute wie Jo Leinen, Elmar Brok oder Herbert Reul haben Sie immer wieder scharf angegriffen für das, was Sie im Parlament machen. Hört bei Spaß der Spaß auf? Finden diese Leute Ihre Anwesenheit im Parlament schlimmer als die der Rechtsradikalen?

SONNEBORN Das glaube ich schon. Rechtsradikale stellen keine Öffentlichkeit her für die Dinge, die sie tun. Parlamentarier sind hier in Brüssel praktisch Götter – ich könnte das jetzt hier (zeigt auf den Teller mit dem Tagesgericht) nehmen und wegschieben, wenn ich es wollte – aber in Deutschland finden sie relativ wenig Beachtung. Das kränkt schon mal. Und Elmar Brocken war so etwas wie ein König des Parlaments, er war fast 40 Jahre im Parlament und nebenbei über ein Jahrzehnt lang hochbezahlter Manager von Bertelsmann. Das ist absoluter Wahnsinn, was der im Konzerninteresse in den Vertrag von Lissabon eingebracht hat. Der Staatsrechtler von Arnim nennt das „legale Korruption“. Brocken kann Staatschefs anrufen, findet aber in Deutschland wenig Beachtung. Und wenn dann jemand kommt, der Beachtung findet, dann stört das viele. Das stört aber auch viele Journalisten. Ein Schweizer Reporter berichtete mir mal, er habe deutschen Journalisten erzählt, dass er ein Interview mit mir führt. Die hätten ihm gesagt, dass sie mich ignorieren, weil ich ein Konkurrent sei. Ein Mann, der sein Heft verkaufen will, die „Titanic“.

Sie sagten gerade, dass die EU-Parlamentarier kaum jemand kennt. Woran liegt denn das?

SONNEBORN Das liegt daran, dass es nicht genug lustige Youtube-Influencer im Europäischen Parlament gibt. Smiley. Ich war gerade bei einem WDR-Symposium in Köln. Es gibt eine sehr große Zurückhaltung, Dinge aus Europa zu berichten. Die EU wird in jedem Jahr wichtiger, aber es gibt keine interessierte Öffentlichkeit, schon gar keine europäische Öffentlichkeit. In Deutschland glaube ich, dass die Medien mehr berichten müssten. Andererseits gibt es ja alles im Netz. Wenn ich mich informieren will, kann ich mir das „Europamagazin“ angucken und erschreckende Dinge über die EU-Beitrittskandidaten erfahren. Über Elmar Brocken steht alles im Internet, was man wissen muss. Das Fernsehen ist aber auch zu lethargisch, zu bieder. Die beiden Filmemacher, die mit mir fast 100 Filme für die „Heute Show“ gemacht haben und zwei Kinofilme, die für „Sonneborn rettet die Welt“ (ZDF Neo) mit Grimme-Preisen ausgezeichnet wurden, die haben immer wieder Stücke über Europa angeboten, aber das wollten die Redaktionen nicht – das interessiere niemanden. Mein Traum ist es, in den kommenden fünf Jahren 27 Fünfzehnminutenfilme aus den 27 Mitgliedstaaten zu machen, die einfach nur die negativen, lustigen, unseriösen Seiten zeigen. Man muss erstmal Interesse wecken.

Das Telefon an der Bar klingelt, der Kellner geht ran.

Ist das ein bewusstes Desinteresse?

SONNEBORN Nein, ich glaube, das ist das übliche quotenfixierte Desinteresse von Fernsehsendern, ihrem Bildungsauftrag gerecht zu werden. Und die Zeitungen? Nun, ich glaube, dass wir in einer total verfickten Zeit leben, in der wir uns im Internet oberflächlich informieren und nicht mehr hinter die Dinge schauen. Wir müssen die Menschen zum Zeitunglesen zwingen. Notfalls mit vorgehaltener Waffe. Sobald wir an der Macht sind, wird eh alles anders. Da wird zuerst einmal Facebook fairstaatlicht. Google auch. Wie kann man derart gesellschaftsgestaltende Kräfte nach ausschließlich profitorientierten Interessen wirtschaften lassen? Und das noch, ohne sie vernünftig zu besteuern. Amazon hat in Luxemburg einen Steuersatz von unter einem Prozent, Apple zahlte 2014 in Irland 0,005 Prozent.

Verstaatlichen, das ist ja eine SPD-Forderung, nicht?

SONNEBORN Nee, das ist eine PARTEI-Forderung. Fairstaatlicht, mit „AI“. Nein, die Grundstruktur für Kommunikation und Information muss genauso in staatliche Obhut wie Straßen, Post, Verkehrs- und Bildungssystem. Zeitungen sind Kulturgüter, die wir brauchen. Wir sehen, wie sich die Gesellschaft auseinanderentwickelt und die Aufmerksamkeitsspanne immer geringer wird. Dagegen müssen wir etwas tun.

Wenn wir mal über die Abstimmungen sprechen, die Sie hier monatlich absolvieren dürfen, können, müssen, was auch immer…

SONNEBORN Müssen, sonst wird mir die Hälfte meiner Büropauschale entzogen. Deswegen will ich sie mitmachen.

Wie verschaffen Sie sich da einen Überblick?

SONNEBORN (zeigt auf Hoffmann) Mein Büroleiter.

Aha.

SONNEBORN Wir haben hier eine Groko Haram, also eine große Koalition, die Chulz noch geschmiedet hat, und die sehr effektiv funktioniert. Als kleine Fraktion hat man nichts zu melden, als Einzelabgeordneter ist es absurd zu glauben, etwas bewirken zu können. Meine Stimme zählt hier nichts – dachte ich am Anfang. Aber mittlerweile werden wir von Grünen, Linken und Sozialdemokraten informiert, wenn mal knappe Abstimmungen anstehen. Wenn es mal auf jede Stimme ankommt – wie in der E-Privacy-Geschichte. In einer der letzten Straßburg-Wochen habe ich eine Abstimmung mitentschieden, die auch mein Bild von der EU noch einmal nachdrücklich beeinflusst hat. Und zwar gab es einen Bericht zur Lage der Grundrechte in der EU, ich lese mal einen Ausschnitt vor: „Das Europäische Parlament erkennt den Einsatz der verschiedenen regierungsunabhängigen Organisationen an, die im Mittelmeer tätig sind und versuchen, Menschenleben zu retten und in Not geratenen Menschen humanitäre Hilfe zu leisten. Das Europäische Parlament weist daraufhin, dass die Seenotrettung eine völkerrechtliche Verpflichtung ist aufgrund von Artikel 98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen, wonach jeder Person, die auf offener See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten ist.“ Das ging mit 312 zu 310 Stimmen durchs Plenum. Wenn ich dagegen gestimmt hätte, wäre es nicht angenommen worden. Das heißt, es gibt 310 Arschlöcher im Parlament, die dagegen gestimmt haben. Und das, obwohl es eine Resolution war, also praktisch keine Bedeutung hat, außer dass sie den Seenotrettern moralisch den Rücken stärkt. Die Annahme ist eine direkte Wirkung der 184.709 Menschen, die 2014 die PARTEI gewählt haben.

Ansonsten hatten Sie sich ja vorgenommen, abwechselnd mit Ja und Nein zu stimmen. Sie schützen sich also durch andere Fraktionen davor, dass mal wirklich etwas in die Hose geht – und Sie am Ende gegen Menschenrechte stimmen?

SONNEBORN Ja. Es ist ja nicht so, dass ich gegen etwas Sinnvolles stimmen würde. Aber das meiste geht halt mit ganz satter Mehrheit durch.

Auch wenn Sie einen Schutz eingebaut haben, machen Sie das Parlament mit ihrem abwechselnden Ja- und Nein-Stimmen nicht verächtlich?

SONNEBORN Das glauben zwar einige konservative Abgeordnete, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es nicht schlechter bestellt wäre um Europa, wenn die komplette CDU/CSU-Fraktion so alternierend abstimmen würde wie ich. Wenn sich jemand für Menschenrechte einsetzt, für die Umwelt, für Soziales, gegen reine Industrieinteressen, gegen die Absurditäten der Finanzindustrie, gegen ausufernde Zensur und Überwachung, für Steuergerechtigkeit, dann sind es immer Linke, Grüne und ein Teil der Sozialdemokraten - und es sind immer die Konservativen, die geschlossen im Block dagegen stimmen. Wir erstellen ab und zu Grafiken über das Abstimmverhalten der Parlamentarier, da kann man das nachvollziehen.

Sonneborn zeigt ein Beispiel zu Uploadfiltern und zum Leistungsschutzrecht. Es gebe einen Generationenriss bei den Grünen und der SPD. Hoffmann fragt die Reporter: Wie stehen Sie eigentlich zum Leistungsschutzrecht? Aber Sonneborn redet weiter.

SONNEBORN Ich erzähle noch kurz die Geschichte von Volker Kauder. Ich hatte meinen Vater mal als Bundespräsidenten vorgeschlagen. Bei der Wahl stand ich im Reichstag in der Schlange vor der Urne, und plötzlich haut mir jemand seinen Ellbogen in die Seite. Da habe ich mich gefragt: Welcher Idiot drängelt denn in der Bundesversammlung vor, um seine Karte früher in die Urne zu schmeißen. Ich drehe mich um und sehe Volker Kauder an mir vorbeiziehen. Da google ich ihn, und stelle fest, dass in seinem Wahlkreis Heckler & Koch sitzen, dass die so 70.000 bis 80.000 Euro in den letzten Jahren in seinen Ortsverein gesteckt haben, dass der Aufsichtsratsvorsitzende von Heckler & Koch öffentlich gesagt hat, Volker Kauder habe immer seine schützende Hand über sie gehalten, und dass Volker Kauder darauf entgegnet hat, er sei für alle Firmen in seinem Wahlkreis zuständig. Kauder hat das Gesetz seines Bruders gegen Abgeordnetenkorruption verhindert und kämpft für Tabak- und Alkoholwerbung. Das ist für mich der Prototyp eines konservativen Abgeordneten, und solche Typen sitzen auch im Europaparlament. Die vertreten die Interessen der Firmen in ihren Wahlkreisen, die haben ihre eigene Karriere vor Augen, und stimmen für Wirtschafts- und Industrieinteressen, dass man sich an den Kopf fasst.

Firmen wie Huawei laden zu Veranstaltungen ins EU-Parlament. Ist dieser Lobbyismus normal in der EU?

SONNEBORN Das ist normal, ja. Die machen das drinnen, die machen das draußen. Lobbyisten haben einen braunen Hausausweis, davon sieht man hier viele. Ich müsste nicht oft für mein Abendessen bezahlen, ich könnte jeden Abend zu einer Veranstaltung gehen, und dort Kollegen treffen. In der vergangenen Straßburg-Woche gab es eine Abstimmung über ein Transparenzregister für Lobbykontakte. Auf Antrag der Konservativen wurde sie geheim durchgeführt. Es war die erste geheime Abstimmung in Sachfragen, die ich erlebt habe, viele ältere Abgeordnete kannten das auch gar nicht. CDU/CSU wollten wohl nicht, dass ihnen im Wahlkampf vorgeworfen wird, sie hätten gegen die Offenlegung gestimmt. Eine intransparente Abstimmung über Transparenz, darauf muss man erst mal kommen. Es macht natürlich Spaß, solchen Vorgängen Öffentlichkeit zu verschaffen.

Wie sind Ihre eigenen Lobbykontakte?

SONNEBORN Schlecht. Bei Huawei sollte ich mal in eine chinesische Kamera sagen, für wie wichtig ich Kommunikation halte und ob ich dafür bin, dass die Chinesen ihren Marktanteil in Europa ausbauen können. Ich habe geantwortet, dass ich Kommunikation für relativ wichtig halte und dass, solange ich etwas zu sagen habe in Europa, kein Chinese seinen Fuß weiter in die Tür bekommt. Danach bin ich erstmal nicht mehr eingeladen worden.

Sie sollten doch einen Vortrag für Philips halten.

SONNEBORN Das stimmt. Das war aber vorher.

In Ihrem Buch taucht es aber erst danach auf.

SONNEBORN Dann kriegt der Lektor Ärger.

Was haben Sie denn über die EU gelernt in den vergangenen Jahren?

SONNEBORN Als ich nach Brüssel kam, dachte ich, die EU ist praktisch alternativlos, das ist ja klar. Dann sieht man die Nachteile der Bürokratie, das Abstimmverhalten vieler Abgeordneter, die unsoziale Politik im Detail. Da hab ich mich gefragt, ob das alles in die richtige Richtung geht. Mein Resümee nach den fast fünf Jahren ist: das Konstrukt funktioniert, es ist nur mit den falschen Leuten besetzt. Wir haben im Parlament eine konservative Mehrheit, einen konservativ besetzten Rat mit überwiegend konservativen Regierungschefs, wir haben eine konservativ besetzte EU-Kommission. Juncker hat mal in einem nüchternen Moment gesagt, die neokonservative Ausrichtung ist nicht im Lissabonner Vertrag festgeschrieben, die Menschen müssten einfach nur anders wählen.

Wie denn?

SONNEBORN Wir haben eine EU, die zur Zeit einen beeindruckenden Schritt in Richtung Aufrüstung macht. Im nächsten EU-Haushalt sind erstmals mehr Gelder für Grenzsicherung und Waffenentwicklung und Lager in Nordafrika vorgesehen als für Entwicklungshilfe. Und das, obwohl der Lissaboner Vertrag untersagt, Gelder in militärische Projekte zu stecken. Die Nato hat fast vier Millionen Mann an den Waffen, Russland eine Million. Verteidigungsausgaben 70 Milliarden bei den Russen, über 1000 Milliarden den Nato-Staaten. Warum steckt man nicht die anvisierten zwei Prozent des Haushalts in den Kampf gegen Armut und Jugendarbeitslosigkeit? Um es banal zu sagen, auch für die wirtschaftsinteressierten Leser: Wenn 15 oder 20 Prozent einer Bevölkerung finanziell schlecht gestellt sind, fangen sie an, merkwürdig zu wählen. Dann kommt es zu unschönen Veränderungen, die auch die Menschen am oberen Ende der Einkommensskala spüren. Wir werden noch viel größere gesellschaftliche Probleme bekommen. Die Leute müssen grüner, linker und sozialdemokratischer wählen. Wir brauchen wieder eine funktionierende Sozialdemokratie in Europa, die gibt es ja nur sehr eingeschränkt zurzeit.

Was bedarf es denn, damit es wieder eine Sozialdemokratie gibt?

SONNEBORN Keine Ahnung. Besseres Führungspersonal. Uns besuchen viele Studenten hier, einige engagieren sich politisch, ein paar Idealisten sind in die SPD eintreten, um in dieser Gesellschaft etwas zu verändern. Die sehen wir zwei Jahre später wieder und dann sagen sie: Es gebe eine Delegiertendecke, durch die nichts hindurchgeht. Die Parteiführung ist vollkommen abgeschottet. Scholz, Nahles, Maas, das ist einfach erschütterndes Mittelmaß. Es gibt Mehrheiten links der CDU, es gibt einen Alternativkurs zum Status quo, aber der wird nicht angeboten. Unsere PARTEI liegt zurzeit in der Sonntagsfrage zur EU-Wahl bei zwei Prozent. Die SPD liegt noch 13 Prozentpunkte vor uns.

Ihr Ziel ist es, die SPD einzuholen?

SONNEBORN Ja. Ich habe gesagt, solange die SPD zu Wahlen antritt, solange treten wir auch an.

Haben Sie im Europaparlament auch etwas über sich selbst gelernt?

SONNEBORN Ich bin aus dem Alter raus, indem man Selbstreflexion betreibt. Das ist schmerzhaft und bringt nichts.

Kommt man da im Alter nicht erst rein?

SONNEBORN Es gibt so eine Zwischenphase. Wenn ich wieder im Lehnstuhl sitze und viel Zeit habe, dann gern.

Ach so.

SONNEBORN Nein. Es gibt genug äußere Umstände, mit denen man sich auseinandersetzen kann. Wir leben in einer viel zu schnelllebigen und hektischen Zeit. Ich weiß nicht, betreiben Sie morgens erstmal eine Stunde Selbstreflexion, bevor Sie den Computer einschalten in der Redaktion?

Würde vielleicht ganz gut tun.

SONNEBORN Bestimmt. Und zwar jedem auf diesem Planeten. Aber die allgemeine Entwicklung geht nicht in diese Richtung.

Hat die Arbeit hier Ihren Humor verändert?

SONNEBORN Ja. Allerdings ist das, wenn ich darüber nachdenke, wahrscheinlich eher eine Altersfrage und eine Frage der Erfahrung. Ich lache seltener als früher.

Sie haben von der Zeit im Sessel gesprochen. Wie verbringen Sie denn Ihre Tage in Brüssel?

SONNEBORN Ich höre morgens Inforadio aus Berlin und höre dort, dass der Irre vom Bosporus (gemeint ist der türkische Präsident Erdogan, Anm. d. Red.) die EU-Kommission angewiesen hat, ein Förderprojekt der Dresdner Symphoniker einzustellen. Das beschäftigt sich auf musikalische Weise mit dem Genozid an den Armeniern. Dann empört mich das, dann trinke ich zwei Kaffee, dann frage ich meinen Büroleiter Hoffmann, ob wir Redezeit bekommen können, und dann organisiert er Redezeit, dann schreibe ich eine Rede. „State of the Union“-Reden schreiben wir zusammen im Biergarten, jedenfalls im Sommer. Dann halte ich eine Rede und gehe wieder nach Hause.

Das ist wohl nicht die Regel.

SONNEBORN Nein. Es gibt auch viele Tage, an denen Besuchergruppen oder Journalisten zu Gast sind. Wir führen lustige Auseinandersetzungen mit Kollegen, mit Jo Leinen zum Beispiel, der vergeblich versucht hat, eine Sperrklausel zur nächsten EU-Wahl einzuführen, dass komplette europäische Wahlrecht zu ändern, nur damit CDU und SPD sich bei sinkenden Wahlergebnissen die Mandate der sieben Kleinparteien aneignen können. Ansonsten viel bürokratischer Kram, Reisen planen, Kaffee trinken. Eine Woche im Monat sind wir in Straßburg. Ich schreibe im Netz, für „Titanic“ oder für ein Buch, Langeweile habe ich keine. Leider.

Haben Sie Freunde gefunden in Brüssel?

SONNEBORN Freunde?

Ja.

SONNEBORN Den Barmann. Oder Janusz Korwin-Mikke, den polnischen Monarchisten, wobei das nicht über den Plenarsaal hinausgeht. Ich habe natürlich soziale Kontakte durch mein Leben hier in Brüssel, aber das sind private Kontakte mit Deutschen. Ich kenne Beamte aus Kommission und Rat und weiß, wie die leben. Und aus welcher gesellschaftlichen Position heraus hier in Brüssel Gesetzesvorschläge erarbeitet werden. Ausländer kenne ich wenige.

Die Abende in Brüssel sind berüchtigt. An welchen einprägsamen Abend erinnern Sie sich?

SONNEBORN Ich erinnere mich an viele einprägsame Donnerstagsabende vor dem Parlament, weil da bei gutem Wetter 2000 bis 5000 Leute stehen und trinken. Nach dem zweiten Bier kommen dann auch Mitarbeiter der konservativen Büros und erzählen. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem ich mit Jurastudenten aus Hamburg in einer Kneipe namens „Delirium“ getrunken habe. Auf der Facebookseite ihrer Universität haben sie hinterher geschrieben, dass sie mit dem „GröVaZ“ im Delirium waren. Ein konservativer Abgeordneter hat sich dann in einem Brief bei der Rektorin der Hochschule bitter beschwert, dass die Studenten ausgerechnet mich besucht hätten. GröVaZ steht übrigens für „Größter Vorsitzender aller Zeiten“.

Wird viel getrunken am Abend?

SONNEBORN Hier wird auch tagsüber viel getrunken. Man sieht hier immer mal wieder Alkoholiker. Meine Stammkneipe in Brüssel schenkt erst ab 12 Uhr Alkohol aus, aber im Parlament erhalten Sie von früh bis spät subventionierten Alkohol. Wussten Sie, dass John Cleese Juncker einen Spitznamen verpasst hat? Jean-Claude Druncker.

Der hat Ischias.

SONNEBORN Ja, das ist wie bei mir. Ich habe von Ukip-Abgeordneten gehört, die vor der Abstimmung vormittags an der MEP-Bar saßen und sich mehrfach Saftgläser voller Whiskey haben kommen lassen. Sie sehen, es gibt immer Unwägbarkeiten in den Abstimmungsergebnissen – dagegen bin ich eine Konstante.

Ist das Leben in Brüssel manchmal einsam?

SONNEBORN Ich habe Familie. Da wünscht man sich manchmal mehr Einsamkeit. Smiley. Das Leben ist aber sehr angenehm in Belgien. Die Erregungszustände sind nicht wie in Deutschland, wo alles immer sofort medial eskaliert. Einer Umfrage des Automobilclubs zufolge fahren hier doppelt so viele Leute betrunken Auto wie in Deutschland. Es ist eine im Ganzen etwas entspanntere Gesellschaft. Nach den Anschlägen von Brüssel sprach der belgische König seinem Volk Mut zu. Er stand dabei im Bademantel in der Thalasso-Therapie und hatte ein Cocktail-Glas mit Schirmchen in der Hand.

Sie wohnen ja einer relativ illustren Gruppe von Abgeordneten bei, den Fraktionslosen. Gibt es trotz aller inhaltlicher Differenzen ein soziales Miteinander?

SONNEBORN Auf keinen Fall. Neben mir sitzen drei rechtsradikale Griechen der Goldenen Morgenröte, Leute, die einen Pressesprecher mit Hakenkreuz-Tattoo haben, und die das Horst-Wessel-Lied nur auf Griechisch singen können, wofür ich sie sehr verachte. Es gibt hier viele Leute, die ich nicht grüße, obwohl ich wohlerzogen bin. Das einzige Miteinander, das es mal gab, war eine gemeinsame Presseerklärung, die ich im Namen aller Kollegen herausgegeben habe, allerdings ohne Rücksprache. Als Marcus Pretzell und Beatrix von Strolch aus ihrer Fraktion geflogen sind, wegen der Schießen-auf-Kinder-Debatte damals. Wenn jemand aus einer Fraktion ausgeschlossen wird, kommt er automatisch zu den Fraktionslosen. Deshalb habe ich erklärt, dass wir die Aufnahme verweigern, wir seien seriöse Antisemiten, Rechtsradikale, Linksradikale und Politclowns und wollten mit diesen Leuten nichts zu tun haben.

Worüber können Sie selbst lachen?

SONNEBORN Ich lache grundsätzlich nicht über Kabarett und Comedy. Ich lache fast gegen meinen Willen über viele Überschriften des „Postillon“, weil das wirklich eine moderne und zeitgemäße Form ist, Dinge zu kommentieren. Ich lache über „Titanic“, aber auch über Korwin-Mikke, der ist ein begnadeter Irrer. Wenn der im Plenum aufsteht und sagt: Es ist korrekt, dass Frauen weniger verdienen, weil sie kleiner, langsamer und dümmer sind als Männer. Und ich dann sehe, wie verzögert durch die Übersetzung einer Spanierin das Gesicht entgleitet, das ist wie im Zeichentrickfilm.

Das ist für Sie als Satiriker natürlich gut.

SONNEBORN Ich freue mich erstmal, wenn so etwas passiert. Und notiere mir routinemäßig alles, was lustig ist. Auch wenn der kleine EVP-Vorsitzende Manfred Streber (gemeint ist Manfred Weber, d. Red.) aufspringt, weil ich in einer feierlichen Rede zum „State oft he Union“ gesagt habe, dass Deutschland nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen sollte als das Mittelmeer, und in der gleichen Rede darauf hinweise, dass ich die Briten aus der EU geschmissen, Chulz zum SPD-Kanzlerkandidaten degradiert und Helmut Kohl sicher endgelagert hätte. Wenn der dann aufspringt und erklärt, man dürfe wirklich alles sagen in diesem Parlament, aber nicht auf diese Weise über Helmut Kohl reden, mein Verhalten sei eines Parlamentariers unwürdig. Das sind schon lustige Momente. So etwas stelle ich ins Netz.

Kennt die Satire Tabus?

Eine extrovertiert wirkende Dame läuft am Tagesgericht vorbei.

SONNEBORN (zu Hoffmann) Ist das die Italienerin, die Berlusconi hier eingeschleust hat?

Hoffmann verneint.

SONNEBORN Verzeihung, wie war eben die Frage?

Wo die Tabus der Satire liegen.

SONNEBORN Es gibt keine absoluten Tabus. Die Grenzen der Satire kann man nur definieren, indem man sich jeden Einzelfall anguckt. Aber man kann nicht einfach sagen, dass man keine Witze über Schwule, Ausländer, Lesben, Neger machen darf. Das Wort „Neger“ versuche ich nicht mehr benutzen, weil die AfD es inzwischen auch benutzt – unangenehmerweise.

Sind Sie mal gerügt worden?

SONNEBORN Nur nachdem sich Manfred Streber über meine Helmut-Kohl-Rede beschwert hat. Die alte Petze. Zwei Monate später erhielt ich ein mahnendes Schreiben von Präsident Tajani bekommen: „Wir gehen davon aus, dass Sie sich auch in Zukunft an die Regeln des Parlaments halten“. Das Wörtchen „auch“ war interessant gesetzt, ein einwandfreier Freispruch.

Haben Sie unverrückbare Werte?

SONNEBORN Ich habe ein humanistisches Weltbild.

Das gerade schwere Zeiten erlebt?

SONNEBORN Naja, wenn ich sehe, dass 310 Leute dagegen sind, Menschen, die andere vor dem Ertrinken retten, ihre Solidarität zu bekunden, dann frage ich mich, was sind das für Werte, die hier vertreten werden? Wirtschaftliche Interessen sind das erste Motiv, es läuft also etwas falsch.

Waren Sie in der Schule beliebt?

SONNEBORN Bei einem Teil der Klasse schon, ja.

Bei welchem?

SONNEBORN Nicht bei den Lehrern.

Was haben die gesagt?

SONNEBORN Es gab ein paar Lehrer, die sympathisch fanden, was ich gemacht habe, und es gab viele andere. Wir hatten einen sehr, sehr konservativen Religionslehrer, der fast durchgedreht ist, als auf meinen fachmännischen Rat hin in seiner Stunde „Das Leben des Brian“ geschaut wurde.

Und die Mitschüler?

SONNEBORN Bei den Bengeln in der letzten Reihe war ich beliebt.

Sie waren ein Klassenclown.

SONNEBORN Keine Beleidigungen, ich habe Immunität! Wir waren eine kleine Gruppe, die sich mit den Bedingungen der Schule scherzhaft auseinandergesetzt hat. Bei einer kirchlichen Schule mit Nonnen und Patres ist das ja klar.

Hat sich in der Schule herauskristallisiert, dass Sie so werden würden wie heute?

SONNEBORN Nein, ich hatte erst im Studium viel Zeit, darüber nachzudenken, was ich nicht machen will. Diese Zeit habe ich genutzt. 15 Semester mit relativ wenig Semesterstunden, ein Auslandsjahr in Wien, alles finanziert mit Bafög. Das ist auch der Grund, warum wir Studenten versprechen, diesen Bachelor-Quatsch abzuschaffen, sobald wir an der Macht sind. Wir wollen die Leute wieder in Ruhe vor sich hin studieren lassen, staatlich alimentiert, nicht diese dreijährige Kurzausbildung, die recht unfertigen Nachwuchs für die Wirtschaft produziert, der keine Gelegenheit hatten, sich für Kunst oder Politik zu interessieren. Ich hoffe, Sie haben noch vorher studiert.

Ja. Sie werden aber heute noch als Clown bezeichnet.

SONNEBORN Politclown, darauf lege ich großen Wert.

Das stört Sie also nicht?

SONNEBORN Nein, „Titanic“ ist ein Minderheitenprogramm, und die PARTEI ist der politische Arm von „Titanic“. Wir sind das gewöhnt, dass man Witze nicht ernst nimmt, uns ignoriert oder anfeindet.

Sie legen also keinen Wert darauf, dass man Sie hier auch als Politiker wahrnimmt?

SONNEBORN Ich betreibe moderne Turbopolitik, ich arbeite mit satirischen Mitteln. Aber wenn deutsche Kapitäne auf Malta festgenommen werden, weil sie Flüchtlinge gerettet haben, dann sage ich nicht, dass ich Politiker bin, sondern, dass ich gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde und noch nicht genau weiß, was ich mache. Da ist es zu sehr rufschädigend, wenn ich mich als Abgeordneter des Europäischen Parlaments bekenne.

Gibt es Dinge, wo Sie aus der Haut fahren?

SONNEBORN (zögert)

Also nicht privat.

SONNEBORN Privat gibt es die schon.

Das dachten wir uns.

SONNEBORN Heute Morgen um 7.32 Uhr hätten Sie so einen Moment erleben können, aber das war privat. Mit über 50 fährt man nicht mehr aus der Haut. Es gibt Dinge, die mich frustrieren. Diese Resolution zur Seenotrettung macht mir seit anderthalb Wochen schlechte Laune.

Ist die satirische Auseinandersetzung auch schon mal schiefgegangen?

SONNEBORN Ich erinnere mich an zwei Sachen. Eine „State of the Union“-Rede, die ich vor der Tür des Plenarsaals halten musste, weil ich keine Redezeit bekam. Da habe ich gemerkt, dass es weniger Aufmerksamkeit gab. Die andere Sache ist die Auseinandersetzung um Leistungsschutz- und Urheberrecht. Ihre Leser würden sofort einschlafen, wenn ich versuche, das zu erklären. Da bin ich froh über eine Abgeordnete wie Julia Reda, die das so aufbereitet, dass es jeder verstehen kann. Außer dem Berichterstatter, Dr. Axel Votz (gemeint ist Axel Voss, CDU, d. Red.).

Gab es Dinge, wo Ihre Familie gesagt hat, das ist drüber?

SONNEBORN Nach der WM-Bestechung rief mich mein Vater an, der Anrufe von Freunden aus dem Tennisclub bekommen hatte: „Dein Sohn hat irgendwas gemacht, der Name steht groß in der „Bild“-Zeitung.“ Da ist er kurz zusammengezuckt (am Vorabend der Vergabe der WM 2006, am 5. Juli 2000, verschickte Sonneborn Faxe an Mitglieder des Fifa-Komitees, in denen er ihnen Kuckucksuhren und Schwarzwälder Schinken anbot, falls sie für Deutschland stimmen sollten. Nach Bekanntwerden der Aktion drohte der DFB Sonneborn mit Schadenersatzforderungen von 600 Millionen Mark, Anm. d. Red.).

Verstehen Sie die EU?

SONNEBORN Nein, das kann man nach knapp fünf Jahren nicht. Ich habe einen guten Einblick in die Funktionsweise des Parlaments bekommen. Europa ist unendlich komplexer als das Bild, das wir sehen. Die 28 Staaten sind in ihren Kulturen viel unterschiedlicher, als man denkt. Schon die simultane Verdolmetschung ist ein riesiges Problem. Ich glaube z.B. nicht, dass jemand in der EU Günther Oettinger versteht. Vielleicht das Geheimnis seines Erfolges.

Für den Fall Ihrer Wiederwahl: Gibt es konkrete Projekte?

SONNEBORN Also wir arbeiten erstmal daran, dass die PARTEI hier wieder einzieht. Ich hoffe, dass wir die zwei Prozent aus der Sonntagsfrage auch erzielen und Nico Semsrott mitkommt nach Brüssel. Er hat das Wahlversprechen gegeben, dass er 60 kurze Filme im Parlament drehen will, jeden Monat einen. Es gibt genug Absurdes zu berichten von hier. Wir haben eine gute Liste zur EU-Wahl aufgestellt. Haben Sie die gesehen?

Teile.

SONNEBORN Die ersten Namen stehen auf dem Wahlzettel. Nach Semsrott und mir folgen Lisa Bombe und Bennet Krieg. Mit Bombe und Krieg nach Europa! Die Mehrheiten werden knapper in Brüssel, es wird ein Haufen populistischer Abgeordneter einziehen, die Sozialdemokraten und die EVP werden viele Mandate abgeben. Ich hoffe, dass wir häufiger das Zünglein an der Waage sein können. Michael Grosse-Brömer, Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, hat nach dieser E-Privacy-Geschichte gesagt: Es kann ja nicht sein, dass ein Politclown die Geschicke Europas bestimmt. Das wäre mein Traum: Dass ein Politclown ohne jede wirtschaftliche Anbindung die Geschicke Europas bestimmt.

Sind Sie der einzige Satiriker im Parlament?

SONNEBORN Auf keinen Fall. Manfred Streber, der Mann, der eine geheime Abstimmung über Transparenz durchgesetzt hat, das ist mein großes Vorbild im Parlament.

Vielen Dank.

SONNEBORN Da nich für. Viel Spaß beim Abtippen.

(jaco/her)
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