Interview mit Mark Rutte "Europa soll sich nicht in alles einmischen"

Hannover · Der niederländische Ministerpräsident befürchtet infolge der Flüchtlingskrise einen Rückfall in nationalstaatliches Denken überall in der EU und lobt die Führungsstärke der Bundeskanzlerin. Zugleich warnt er aber vor dem Verdruss der Bürger.

 Erster Mann an der Spritze: Der Rechtsliberale Mark Rutte regiert seit 2010 in den Niederlanden. Unser Bild zeigt ihn auf einer Messe in Amsterdam.

Erster Mann an der Spritze: Der Rechtsliberale Mark Rutte regiert seit 2010 in den Niederlanden. Unser Bild zeigt ihn auf einer Messe in Amsterdam.

Foto: afp

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte steht in Halle 4 der Hannover-Messe. Rutte ist an diesem Tag nach Deutschland gereist, um sich über die Innovationen von rund 100 niederländischen Unternehmen zu informieren. Wir treffen ihn wenige Tage nach den deutsch-niederländischen Regierungskonsultationen, bei denen Rutte mit der Kanzlerin über das Flüchtlingsproblem beriet.

Was halten Sie von der Politik der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise?

Rutte Wir arbeiten eng zusammen. Angela Merkel und ich hatten unterschiedliche Ansichten über die Schließung der westlichen Balkanroute. Ich fand die Schließung eine gute Sache, Merkel war dagegen. Dennoch waren wir beide der Meinung, dass die Überfahrten über das Ägäische Meer beendet werden mussten und dass wir dazu Verabredungen mit der Türkei brauchten. Ich bin sehr froh, dass Deutschland und die Niederlande in dieser Sache führend waren und dass es heute eine Lösung gibt. Die Anzahl der Flüchtlinge ist dramatisch gesunken, um 90 bis 95 Prozent. Es gibt nicht immer Übereinstimmung zwischen Deutschland und den Niederlanden, aber die Beziehungen sind natürlich unglaublich fest.

Wie wichtig ist die deutsch-niederländische Kooperation für den Zusammenhalt Europas in dieser Krise?

Rutte Die Zusammenarbeit ist wichtig. Wenn sie auch für den Zusammenhalt in Europa hilfreich ist, dann ist das gut. Wir haben nach Partnern gesucht, die in der Flüchtlingsfrage mit uns übereinstimmen. Wir sind uns in vielen Punkten einig - außer in der Frage der Schließung der westlichen Balkanroute. Europa ist schon damit geholfen, dass nur einige Länder die Initiative ergriffen haben und dadurch das Abkommen mit der Türkei geschlossen werden konnte.

Hat sich die Kanzlerin isoliert?

Rutte Nein. Merkel ist eine sehr starke Führungsfigur. Ich habe vor ihr den größten Respekt. Sie ist das, was die Deutschen anständig nennen, sie ist sehr entschieden und arbeitet zielorientiert. Sie ist eine eindrucksvolle Persönlichkeit und hat in Europa viel Autorität. Ich habe den Eindruck, dass sie in Europa nicht weniger Autorität genießt als vor einem Jahr.

Droht Europa ein Rückfall in nationalstaatliches Denken?

Rutte Ich bemerke in Europa eine wachsende Sorge über die vielen Bürger, die denken, dass Entscheidungen über sie, aber nicht mit ihnen getroffen werden. Ich verstehe die Sorgen. Wir müssen mehr machen, um alle Bürger in Europa mitzunehmen. Europa darf seine Politik nicht nur durchpeitschen. Ich finde es auch nicht schlecht, dass die Bevölkerung sagt: Macht es mit uns und nicht ohne uns. Das ist tatsächlich sehr wichtig. Deswegen setzen die Niederlande sich für eine Vereinfachung ein. Europa soll nur da handeln, wo es auch Sinn ergibt. Europa sollte sich nicht in alles einmischen. Wir müssen vielmehr pragmatisch zusammenarbeiten, um Europa zu schützen, einen starken Handel zu haben und die Flüchtlingskrise zu bewältigen.

Welche Rolle kann Deutschland spielen, um den Rückfall in nationalstaatliches Denken aufzuhalten?

Rutte Ich denke, Deutschland sieht das ähnlich wie wir Niederländer und hat grundsätzlich einen pragmatischen Blick auf Europa. Es ist eine Gemeinschaft der Werte. Historisch gesehen steht Deutschland für eine besonders starke Verankerung der Länder in der EU. Gleichzeitig gibt es aber auch in Deutschland die Erkenntnis: Wir können es nicht ohne die Bürger schaffen. Daher sollte es Schritt für Schritt vorangehen - um Merkel zu zitieren.

Neeltje Huirne führte das Gespräch.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort