Kein Öl-Embargo Ungarns Premier triumphiert erneut über die EU

Brüssel · In Brüssel sabotierte Viktor Orbán einmal mehr die Geschlossenheit der EU gegen den Kriegstreiber Russland. Und zu Hause macht er sich im Schatten des Ukraine-Dramas daran, in Ungarn eine Diktatur á la Putin zu errichten.

 Viktor Orban, Premierminister von Ungarn, trifft zu einem außerordentlichen Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel ein.

Viktor Orban, Premierminister von Ungarn, trifft zu einem außerordentlichen Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel ein.

Foto: dpa/Geert Vanden Wijngaert

Er hat wieder einmal bekommen, was er wollte. Vom EU-Sondergipfel in Brüssel gestern nach Budapest zurückgekehrt, triumphierte Premier Orbán auf seiner Facebook-Seite: „Die Familien können ruhig schlafen. Wir haben… erfolgreich den Vorschlag der Kommission abgewehrt, der die Verwendung von russischem Öl in Ungarn verboten hätte.“ 26 EU-Länder sollen künftig auf insgesamt 75 Prozent ihrer Ölimporte aus Russland verzichten, um nicht dessen Krieg gegen die Ukraine zu finanzieren. Nur Ungarn darf weiterhin russisches Öl, von dem es stärker als andere Länder abhängig ist, über die Pipeline „Druschba“ importieren.

Der EU-Sondergipfel hätte ein weiteres, gemeinsames und bislang das härteste Sanktionspaket gegen den Kriegstreiber Wladimir Putin beschließen sollen. Dank Orbán und zur Freude des Herrschers im Kreml erweckt die EU einmal mehr den Eindruck, bloß zu schlappen Kompromissen fähig zu sein. Der Gasboykott ist ohnehin kaum noch realisierbar, zu stark sind die Differenzen der einzelnen Mitgliedsstaaten.

Doch scheint selbst Orbán seinem Freund Putin nicht recht zu trauen. Beim Brüsseler Gipfel bekam er auch die geforderten „Garantien“ zugesagt: Sollte Putin die „Freundschafts“-Pipeline wider Erwarten auch für Ungarn dicht machen, erwartet Orbán von der EU finanzielle Hilfen und/oder Öllieferungen von anderen EU-Ländern. Wohlgemerkt: Orbán, der bei Gemeinschaftsanliegen seine Solidarität verweigert und die EU sogar zum Feind Ungarns erklärt hat, fordert die Solidarität von den übrigen Partnerländern ein, wenn er sie braucht.

Derweil nutzt Orbán die Gelegenheit, im Schatten des Ukrainekriegs die letzten Reste von Demokratie und Rechtsstaat im eigenen Land zu beseitigen, weil er glaubt, die sich abzeichnende Wirtschaftskrise mit ihren sozialen Folgen könnten seine Macht gefährden. Vorige Woche beschloss das Parlament mit der Zweidrittelmehrheit der nationalistischen Regierungspartei Fidesz den „Kriegsnotstand“, der ihm quasi-diktatorische Vollmacht gibt. Ungarn müsse sich, so steht es im Gesetzesantrag, gegen einen „bewaffneten Konflikt, eine Kriegslage oder eine humanitäre Katastrophe in einem Nachbarland“ wappnen.

Nun kann Orbán den langwierigen, parlamentarischen Gesetzgebungsprozess umgehen und per Dekrete regieren, die er jederzeit und ohne Zeitverlust anordnen kann. Er kann auch bestehende Gesetze annullieren und diese durch neue, ihm genehmere Bestimmungen ersetzen. Mit der bei den April-Wahlen zum vierten Mal bestätigten Zweidrittelmehrheit der nationalistischen Regierungspartei Fidesz beherrschte er schon bisher das Parlament, mit der Zustimmung zum „Kriegsnotstand“ hat es sich selbst kaltgestellt. Die ohnehin ohnmächtige und zerrissene Opposition hat praktisch keine politische Bühne mehr.

Noch am ersten Tag des „Kriegsnotstands“ beschloss die Regierung drastische Eingriffe in die Wirtschaft. So werden in den nächsten zwei Jahren Sondersteuern auf Gewinne von vorwiegend ausländischen Großunternehmen, Banken und Versicherungen erhoben. Rund zwei Milliarden Euro sollen in staatliche Fonds fließen, mit dem vor allem die Deckelung der Energie- und Lebensmittelpreise finanziert werden soll.

Das „Notstandsgesetz“, bereits 2011 in der Verfassung neu verankert, ist für Orbán zum wichtigsten Machtinstrument geworden. In zwölf Jahren Regierungszeit hat er es zu zehn Verfassungsänderungen und vier Notstandsregimen gebracht. 2015, im Jahr der Flüchtlingskrise, war es der „Migrationsnotstand“, der formal noch immer andauert und mit dem er die EU-Normen des Asyl- und Aufenthaltsrechts aushebelte. 2016 folgte wegen einer Reihe islamischer Attentate in Europa der „Terrorismusnotstand“, 2020 wegen der Viruspandemie der „Gesundheitsnotstand“.

Mit Hilfe der Notstandverordnungen hat Orbán in den letzten Jahren die Unabhängigkeit der Justiz beschnitten, die Medien- und Meinungsfreiheit sowie Menschenrechte unter sicherheitspolitischen Vorwänden massiv eingeschränkt. Die von Korruption verseuchte Wirtschaft steht unter der Kontrolle seiner „Staatspartei“ Fidesz und der ihr nahestehenden Oligarchen. Jetzt soll nach dem Vorbild Putins unter dem Vorwand der „Bekämpfung von Falschinformationen“ auch der Rest der Meinungsfreiheit und unabhängiger Medien unter hohen Strafandrohungen eliminiert werden.

Kurz nach seinem Machtantritt witzelten die Ungarn über die „Viktatur“, die ihnen mit Orbán bevorstehe; ein Jahrzehnt später ist sie nahezu vollendet, ohne dass sich nennenswerter Widerstand regt.

Wie lange lässt sich die EU vom Antidemokraten Orbán noch an der Nase herumführen? Längst ist er Moskau näher als Brüssel. Grüne Europaparlamentarier forderten vorige Woche in einem Brief an Ratspräsident Charles Michel den Ausschluss Orbáns von den Gremien der Regierungschefs und Fachminister: „Im Europäischen Rat dürfen nur Demokraten sitzen“, heißt es, besonders, „wenn es um die zentralsten Entscheidungen für die Sicherheit in Europa geht“.

Orbán hat indes noch gute Gründe, die EU weiterhin herauszufordern. In erster Linie braucht er angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Spannungen dringend die Milliarden Euro an Fördergeldern, die Brüssel solange zurückbehalten will, bis in Ungarn Demokratie und Rechtstaat nach EU-Normen wieder hergestellt sind und glaubwürdig die Korruption bekämpft. Orbán ist zuversichtlich: Die zähe Debatte um die Sanktionen gegen Russland haben ihm einmal mehr gezeigt, dass Sturheit mit Chuzpe zum Erfolg führt.

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