Spitzenkandidat der Christdemokraten für Europa Jean-Claude Juncker - Wahlkämpfer mit eigenem Kopf

Rotenburg · Jean-Claude Juncker hat sich gerade in Schwung geredet. Da klingelt plötzlich sein Handy aus der Sakko-Innentasche. Der Luxemburger nimmt es heraus und schaut aufs Display: "Das ist meine Frau, die hat gar nicht mitbekommen, dass ich schon wieder fort bin", sagt der 59-Jährige trocken.

 Jean-Claude Juncker bei einem Wahlkampfauftritt am Mittwoch in Brüssel.

Jean-Claude Juncker bei einem Wahlkampfauftritt am Mittwoch in Brüssel.

Foto: dpa, h0 lb

Die vorhergehende Nacht ist eine der wenigen gewesen, die der Spitzenkandidat der europäischen Christdemokraten in letzter Zeit daheim verbringen konnte. Er tourt seit dem 8. April mit einem blauen Bus zehntausende Kilometer kreuz und quer durch die EU — von Bulgarien bis Zypern ("Ich fühle mich wie Obama nur ohne Air Force One").

Der Europawahlkampf gehe seiner Frau Christiane gehörig auf die Nerven, erzählt er. "Ich kann Dich nicht mal rausschmeißen, Du bist ja nie da", habe sie jüngst zu ihm gesagt.

Juncker hat die Lacher im Saal auf seiner Seite. So mag er es. Der Luxemburger Ex-Premier spricht vor dem CDU-Landesparteitag in Hessen. Sein Kampagnen-Manager hat beim Reingehen flugs "Juncker for President"-Plakate in den ersten Reihen verteilt — damit die Kulisse stimmt. Die Stimmung ist gut.

Juncker gibt dem Publikum, was es hören will: Angriffe auf den politischen Gegner. Die Wirtschaftspolitik der Sozialisten erinnere ihn an Christoph Kolumbus. "Sie fahren los, ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Wenn Sie ankommen, wissen sie nicht, wo sie sind. Und am Ende bezahlt der Steuerzahler die Reisekosten."

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Wachstum auf Pump werde es mit ihm als Kommissionspräsident nicht geben, so Juncker. "Wachstum und gesunde Staatsfinanzen sind zwei Seiten einer Medaille." Er verteidigt den Euro, den er maßgeblich mit gerettet hat, als "Schutzschild für Europa". "Ohne ihn wären wir heute im Währungskrieg."

Apropos Krieg: Juncker erzählt, dass sein Vater von der Wehrmacht zwangsrekrutiert und an die russische Front geschickt wurde. Er habe noch schmerzhaft erfahren müssen, was "Nicht-Europa" bedeutet. "Ich will, dass nie wieder eine Generation ihre Jugend verliert, weil sie auf Schlachtfelder statt in Schulen geschickt wird." Die Ukraine-Krise zeige aktuell, dass Frieden in Europa keine Selbstverständlichkeit sei.

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Als er fertig ist mit der großen Politik, hat Juncker nur einen Wunsch: "Kann ich bitte ein Bier haben?" Er stößt mit Ministerpräsident Volker Bouffier auf der Bühne an. Obwohl er weiß, dass ein Journalist, der mit seinem Artikel über Junckers angebliche Alkoholprobleme für Wirbel sorgte, im Publikum sitzt. Das ist typisch für Juncker. Er mag (Selbst) Ironie — und er lässt sich nicht verbiegen.

Auch nicht von der eigenen Parteienfamilie. Aus der Union gab es Kritik, der Luxemburger überhole den sozialdemokratischen Rivalen Martin Schulz mit der Betonung starker Arbeitnehmerrechte links und kümmere sich zu wenig um die Industrie. "Mein Vater war Stahlarbeiter und ich bin im Rhythmus der Schmelze aufgewachsen", sagt er dazu nur. Er müsse nicht beweisen, dass er etwas von Industrie verstehe.

"Ich will nicht Germany's next Top-Model werden"

Auch dem Vorwurf, er verkörpere das alte Europa, begegnet Juncker auf seine Weise — per Wahlwerbespot: Dort sitzt der 59-Jährige mit einer Feder an einem massiven Schreibpult. "Ich möchte Europa in eine neue Ära des Wachstums führen", sagt der Luxemburger. Dann schwenkt die Kamera auf einen Raum voller junger Social-Media-Nutzer. "Das ist fertig zum Twittern", sagt Juncker und gibt sein mit Tinte beschriebenes Papier weiter. "Man muss kein Techie sein, um an Technologie zu glauben", so Junckers Fazit. Ein echter digitaler Binnenmarkt kann seinen Vorstellungen nach bis 2019 einen Mehrwert von 500 Milliarden Euro für Europas Wirtschaft bringen.

Dass sein Rivale Martin Schulz just dieses Thema neuerdings auch pusht — lässt ihn äußerlich kalt. "Wir haben es erfunden", sagt sein Kampagnen-Manager, während der Bus an einer riesigen Martin-Schulz-Werbung vorbeifährt. Die Debatte vom "unsichtbaren Kandidaten", der nirgendwo plakatiert ist, nervt Juncker sichtlich. "Ich will nicht Germany's next Top-Model werden", brummelt Juncker und zieht an der zigsten Zigarette auf dem Weg von Rotenburg nach Fulda.

Die CDU setzt visuell im Endspurt auf Angela Merkel und den nationalen Spitzenkandidaten David McAllister. In seiner Heimat Luxemburg gibt es keine Juncker-Plakate, weil er dort nicht national als Kandidat für das Europaparlament antritt, sondern nur europäisch für das Amt des Kommissionspräsidenten. Deshalb steht sein Name auch auf keinem Wahlzettel. Die Devise für Deutschland heißt also: "Wo CDU draufsteht, ist Juncker drin."

"Jede Zahl, die er einmal gelesen hat, behält er im Kopf"

Seine Mitarbeiter beschreiben den Luxemburger als "lernendes System" mit einem Elefantengedächtnis. "Jede Zahl, die er einmal gelesen hat, behält er im Kopf." Er selbst mag es nicht, zu betonen, was er besser zu können glaubt als sein Konkurrent Martin Schulz. Nur soviel: "Ein guter Kommissionspräsident braucht Erfahrung in einem Regierungsamt, um den Apparat erfolgreich zu führen." Juncker war 18 Jahre Ministerpräsident Luxemburgs, Schulz Bürgermeister von Würselen, bevor er EU-Parlamentschef wurde. Keine Frage. Juncker ist der erfahrenere Staatsmann, aber nicht unbedingt auch der bessere Wahlkämpfer.

Der gelernte Rechtsanwalt posiert ungern für Fotografen oder küsst Kinder für die Kameras ("Ich bin kein Anhänger von inszenierten Shows"). Dass an diesem Tag der Straßenwahlkampf in Fulda flach fällt, liegt allerdings am Regen, nicht an der Unlust des Kandidaten. Ein paar Selfies und Autogramme für junge Parteiaktivisten — das war's.

Homestories verweigert Juncker kategorisch. Auch Polarisierung und Pauschalisierung sind ihm zuwider: So warnt er gerne davor, die Freizügigkeit wegen einer überschaubaren Zahl an Sozialmissbrauchsfällen gänzlich in Frage zu stellen. "Ich sage ja auch nicht, die deutsche Ingenieurskunst ist am Ende, weil Berlin einen Flughafen hat, den man nur auf dem Landweg erreichen kann."

Der Luxemburger versteht sich als Brückenbauer. Er will Europa zusammenführen statt Nord gegen Süd auszuspielen, wie es beim Streit um die Milliarden-Hilfspakete zuletzt geschah. "Die Griechen sind nicht per se faul und die Deutschen keine Nazis."

Es macht Juncker überhaupt nichts aus, seine Kernbotschaften in einer Endlos-Schleife an Interviews zu wiederholen. Mehr als 300 Stück hat er in den vergangenen Wochen gegeben. Im Wahlkampfbus nehmen im fliegenden Wechsel immer neue Reporter den Platz gegenüber dem Kandidaten ein. Juncker führt seine Kampagne zu einem Großteil über das gedruckte und gesendete Wort. Auch aus Zeitgründen. Während Martin Schulz schon monatelang im Kampagne-Modus ist, begann Juncker erst richtig im April, weil die europäischen Konservativen spät ihren Spitzenkandidaten bestimmten. Merkel sprach sich für Juncker aus.

Der ärgerte die Bundeskanzlerin, indem er sich im ersten Doppel-Interview mit Schulz für gemeinsame Schuldenhaftung über Eurobonds aussprach. Mittlerweile sagt er das so nicht mehr. Und Juncker betont, er habe die feste Zusage von Angela Merkel, Im Falle eines Wahlsiegs auch wirklich EU-Kommissionspräsident zu werden. Die Staats- und Regierungschefs müssen im Lichte des Wahlergebnisses einen Kandidaten vorschlagen, der dann eine Mehrheit im Europaparlament braucht.

Klar ist aber: einen bequemen Brüsseler Exekutivchef bekommt die Kanzlerin nicht, wenn der Luxemburger auf dem Chefsessel landet. Immer wieder hat Juncker als Premier des Mini-Staats bewiesen, dass er vor den Großen nicht kuscht. Er selbst umschreibt das gerne mit einer Anekdote: ein Floh könne einen Löwen ganz schön piesacken, umgekehrt jedoch sei das nicht überliefert. Als mächtiger Kommissionschef in Brüssel wäre er sogar weit mehr als ein lästiger Floh.

(ing)
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