Mahnungen in Berlin und Brüssel Holocaust-Gedenken in Pandemie-Zeiten

Meinung · Studien zeugen von wachsenden Interesse der Jugend an dem, was in den finstersten Jahren passierte. Das gibt Hoffnung. Weil nicht nur in Deutschland der Holocaust verharmlost wird, war es gut, dass Überlebende sowohl in Berlin als auch in Brüssel die Dimension des Verbrechens vermittelten.

 Inge Auerbacher umarmt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkstunde im Bundestag am Donnerstag.

Inge Auerbacher umarmt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkstunde im Bundestag am Donnerstag.

Foto: AP/Markus Schreiber

Es dauerte über fünf Jahrzehnte, bis in Deutschland erstmals im offiziellen Rahmen der Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz gedacht wurde. Bis dahin war der Tag vor allem ins Kurzzeit-Bewusstsein gekommen, wenn Überlebende vom 27. Januar als ihrem „zweiten Geburtstag“ sprachen. Dass nun nicht nur im Land der Täter in würdevollem Rahmen und mit aufwühlenden Worten regelmäßig an den Holocaust erinnert wird, sondern die Vereinten Nationen den 27. Januar 2005 zum weltweiten Gedenktag machten, war selten so wichtig wie an diesem 77. Jahrestag.

Denn den Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ an die Brust zu heften, ist keine Exklusividee deutscher Holocaust-Verharmloser. Auch in Frankreich stilisieren sich Impfgegner mit den Wörtern „sans vaccin“ (ohne Impfstoff) auf dem Judenstern als von einem historischen Massenmord bedrohte Bevölkerungsgruppe. Und auch an den Straßenlaternen in Brüssel kleben Aufkleber mit der Botschaft „stop dictature sanitaire“ (stoppt die Gesundheitsdiktatur). Damit hat die Verhöhnung der Opfer von Holocaust und Gewaltherrschaft in Europa ein Ausmaß angenommen, das über Jahrzehnte kaum vorstellbar war.

Deshalb ist es gut, dass nicht nur der Bundestag die Holocaust-Überlebende Inge Auerbacher bat, einer weiteren Generation von Deutschen das abscheuliche Geschehen näher zu bringen, sondern dass die Überlebende Margot Friedländer zugleich vom Europaparlament ans Rednerpult in Brüssel geladen wurde. Wer ihre Schilderungen einmal verfolgte, kann kein Verständnis mehr für gemeingefährliches Schwurbeln mit Holocaust-Vergleichen haben. Man muss seinen Kompass für die gar nicht so schwere Unterscheidung zwischen Völkermord und Aufrufen zum freiwilligen Impfen schon lange im Nirwana der wirklichkeitsverdrehenden Netzideologen verloren haben, um danach noch zum gelben Stern und zu Diktaturwarnungen greifen zu können.

Leider ist beides nur die Spitze eines gefährlichen Eisberges. Da findet die QAnon-Bewegung weltweit Zulauf von Menschen, die davon überzeugt sind, dass Prominente heimlich Kinderblut trinken – die Wiederbelebung eines Jahrhunderte alten antisemitischen Klischees. Da zeigen sich ansonsten geistig intakt wirkende Mitbürger anfällig für die Erzählung, wonach „die Juden“ das Virus verbreiten würden, um die Weltherrschaft zu übernehmen. Wer sich Jahrzehnte fragte, wie damals der Boden für die faktenfreie Rassenideologie der Nazis entstehen konnte, braucht heute nur einmal auf die Straßen Europas zu gehen.

Dagegen hilft nur eine Grundimmunisierung möglichst großer Teile jeder neuen Generation. Nicht nur am 27. Januar. Politik und Schulen sollten Studien über wachsendes Interesse der Jugend als Ansporn und Pflicht verstehen. 

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