Historiker im Interview „Der europäische Einheitsstaat ist zwingend“

Der irische Historiker Brendan Simms erklärt im Interview mit unserer Redaktion, warum aus seiner Sicht die Europäische Union im Ringen um den Brexit nicht gewinnen sollte. Die EU in ihrer jetzigen Form ist für ihn eine Fehlkonstruktion – und ausgerechnet das Vereinigte Königreich sei das Vorbild für ihre weitere politische Entwicklung.

 Hunderttausende demonstrierten am vergangenen Wochenende in London gegen den Brexit.

Hunderttausende demonstrierten am vergangenen Wochenende in London gegen den Brexit.

Foto: dpa/Yui Mok

Der Mann ist nicht nur Experte für die britischen Beziehungen zum europäischen Kontinent, er verkörpert sie geradezu: Brendan Simms (51) ist Sohn einer deutschen Mutter und eines irischen Vaters, und er arbeitet in England, genauer: als Historiker an der Universität Cambridge. Unser Gespräch über den Brexit dreht sich um Bruch und Kontinuität, Souveränität und Integration. Und Simms vertritt wie stets sehr entschiedene Thesen.

Herr Professor Simms, ist der Brexit eine gute Idee?

Simms So, wie er jetzt gemacht wird, sicherlich nicht. Der Brexit als unabgestimmte, einseitige Handlung musste zum Chaos führen. Inzwischen ist er allerdings nicht nur unvermeidlich, sondern sogar erforderlich – sogar für die EU.

Warum das?

Simms Für die EU wäre es schlecht, wenn die Briten den Brexit zurücknähmen, weil die Europäer dann sagen könnten: Wir haben es den Briten gezeigt, außerhalb unserer Ordnung gibt es keine Ordnung. Dann würden die nötigen Veränderungen innerhalb der EU nie angegangen.

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Und die Briten? Sollten sie notfalls ohne Deal austreten?

Simms In dem vorliegenden Deal mit seiner Auffanglösung für Nordirland, die Großbritannien weiter an die EU bindet, steckt ein Ordnungsanspruch der EU, der weder mit der Geschichte des Vereinigten Königreichs noch mit den realen Machtverhältnissen vereinbar ist. Insofern: ja, auch ohne Deal.

Geben die Briten mit dem Austritt ihren jahrhundertealten Anspruch auf, für ein Gleichgewicht der Mächte in Europa zu sorgen? Heißt die neue Devise jetzt: Souveränität um jeden Preis?

Simms Die beiden Prinzipien bedingten einander – Konsens im Vereinigten Königreich war immer: Wir können unsere Souveränität nur erhalten, indem wir das Gleichgewicht in Europa erhalten. Umstritten war nur, auch in der Brexit-Debatte, ob das durch ein Mitmachen in Europa geschehen sollte oder ob schon die Mitgliedschaft in der EU mit der britischen Souveränität unvereinbar ist.

Hätte die britische Souveränität nicht auch in der heutigen EU, die ja ein Staatenbund und kein Bundesstaat ist, gewahrt bleiben können?

Simms Der Stein des Anstoßes war die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Unter dieser Bedingung, ohne einen Kompromiss mit einer Sonderregelung für Großbritannien, war der Verbleib in der EU letztlich nicht mit der britischen Souveränität vereinbar.

Ist also das Fazit der vergangenen Jahrzehnte: Europäische Integration ist eben nichts für Großbritannien?

Simms Das könnte man so sagen. Denn was die Europäische Union ausmacht – die gemeinsame Währung, der Schengenraum, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik –, verlangt einen Einheitsstaat. Für die Festlandseuropäer ist diese immer tiefere Einigung zwingend, für die Briten nicht.

Aber ein solcher Einheitsstaat ist doch völlig unrealistisch.

Simms Trotzdem ist er zwingend. Die verbliebene Souveränität der EU-Mitgliedstaaten besteht großteils nur noch zum Schein. Um zum Beispiel die gemeinsame Währung zu stabilisieren, braucht es eine Wirtschaftsregierung und gemeinsame Staatsanleihen – und letztlich eine einheitliche politische Vertretung wie in Großbritannien und den USA. Für die gemeinsame Außenpolitik braucht es eine gemeinsame Armee. Anders geht es nicht.

Das heißt, in ihrer jetzigen Gestalt – ein Teil der Souveränität in Brüssel, ein Teil bei den Staaten – muss die EU scheitern?

Simms Das kann sehr lange gutgehen – die Deutschen haben ja aus der Zeit des Heiligen Römischen Reiches Erfahrung damit. Aber irgendwann geht es nicht mehr gut. Die EU in ihrer jetzigen Form ist eine konzeptionelle Fehlkonstruktion. Die Staatsgewalt, die ein vereintes Europa als Föderation jetzt schon ausüben müsste, ist genau die, die das Vereinigte Königreich seit 1707 ausübt, als sich England und Schottland zu Großbritannien vereinigten.

So etwas vorzuschlagen, wäre heute in Deutschland glatter politischer Selbstmord.

Simms (lacht) Das ist gut möglich, widerlegt aber nicht meine Analyse.

Wo ist Europa aufs falsche Gleis geraten?

Simms Zum ersten Mal 1954, als die Europäische Verteidigungsgemeinschaft an Frankreich gescheitert ist – das war ein fataler Fehler.  Dann Anfang der 90er Jahre, als wieder Frankreich das Haupthindernis war, weil es Angst vor der deutschen Dominanz in einem politisch vereinigten Europa hatte. Inzwischen ist Deutschland das Haupthindernis geworden, weil es sich der weiteren Integration widersetzt.

Warum sagt aber dann selbst jemand wie Jean-Claude Juncker, er sei kein Anhänger der Vereinigten Staaten von Europa, und Europa könne nicht gegen die Nationen auf den Weg gebracht werden?

Simms Das ist in gewisser Weise ein Armutszeugnis. Natürlich werden die Nationen weiterbestehen – das tun sie ja im Vereinigten Königreich auch. Wenn aber die Nationalstaaten weiterbestehen sollen, dann sehe ich schwarz für Europa. Das wäre unvereinbar mit den Aufgaben, die die Union erfüllen muss.

Was unterscheidet die Nation vom Nationalstaat?

Simms Sehen Sie sich das Vereinigte Königreich an: Dort haben wir vier Nationen – die englische, die schottische, die walisische und einen Teil der irischen. Aber wir haben nicht mehr vier Nationalstaaten, sondern nur noch einen – das Vereinigte Königreich. Die Engländer sind heute die größte Nation in Europa ohne eigenen Staat.

Das heißt, die Nationen im Vereinigten Königreich sind „nur“ noch relevant für die Identität?

Simms Ja – aber das ist in vielem entscheidend. Zugleich hat die Union eine neue Identität geschaffen, nämlich die britische. Das ist eine politische Identität. So etwas bräuchten wir als Europäer in einer richtigen politischen Union des Festlands. Wir hätten weiter unsere Nationen, aber unsere politische Identität wäre die europäische.

Ist der Fortbestand des Vereinigten Königreichs durch den Brexit bedroht?

Simms Die Frage ist jetzt, ob die britische Identität standhalten kann gegenüber dem Anspruch aus Europa. Ich bin da recht zuversichtlich. Beim Referendum 2014 sind die schottischen Nationalisten fast ans Ziel gelangt, aber damals waren England und Schottland Teil der EU. Gerade die Perspektive, sozusagen ungestraft austreten zu können, hat die Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland befeuert – es hätte ja danach keine Zollgrenze zu England gegeben. Ohne England in der EU sieht das ganz anders aus. Auf mittlere und lange Sicht wird der Brexit die Beziehungen zwischen den britischen Nationen sogar stärken.

Selbst was Nordirland betrifft?

Simms Selbst was Nordirland betrifft. Es gibt keine Mehrheit in Nordirland für den Austritt aus dem Vereinigten Königreich, genauso wenig wie in Schottland. Der Streit um Nordirland ist ja keiner zwischen Nordirland und dem Rest des Königreichs, sondern innerhalb Nordirlands.

Hat sich die EU zu sehr an die irischen Interessen gekettet?

Simms Die EU hatte keine andere Möglichkeit – jeder Mitgliedstaat hat ein Vetorecht. Das ist ein weiterer Beleg für die Widersprüchlichkeit der europäischen Strukturen. Ein Gebilde, das so inkonsequent gestaltet ist wie die EU, versucht, dem Vereinigten Königreich seinen Willen aufzuzwingen, und hat das auch beinahe geschafft. Mich wundert, dass es überhaupt so weit gekommen ist.

Wer wird diese Kraftprobe gewinnen?

Simms Europa sollte sie jedenfalls nicht gewinnen. Die Europäer haben diesen Ordnungskampf bis heute nicht richtig verstanden, und ein Sieg wäre auch nicht in ihrem Interesse.

Was meinen Sie damit?

Simms Deutschland verliert mit dem Brexit etwa in Handelsfragen einen wichtigen Verbündeten. Deswegen wäre es klug gewesen, den Briten ein Mitspracherecht zu lassen, zum Beispiel in einer Zollunion. Das wollten allerdings gerade die Deutschen nicht, weil das Rosinenpickerei sei. Es wäre aber in deutschem Interesse gewesen. Aber man wollte lieber den Briten das eigene Ordnungssystem aufzwingen. Stattdessen hätte man zunächst Festlandeuropa politisch einen müssen – das hätte den Brexit praktisch erzwungen. Dann hätte man einvernehmlich mit den Briten den Austritt aushandeln müssen, um schließlich gemeinsam eine Konföderation zu gründen.

Was heißt das für die künftigen Beziehungen zu Großbritannien? Stehen wir vor einem Bruch von historischen Ausmaßen?

Simms Entscheidend sind zwei Fragen: Wer wird nach dem Brexit das Territorium des Vereinigten Königreichs ordnen – das britische Parlament oder die EU? Wenn die EU etwa über die Auffanglösung mit Nordirland Einfluss auf die britische Politik behält, wäre das ein gewaltiger Bruch in der britischen Geschichte, etwas, das wir seit dem 17. Jahrhundert nicht erlebt haben. Und die zweite Frage: Wenn die Briten die Ordnungsmacht über ihren Staat behalten – wie wird dann die britische Ordnungsfunktion auf dem Festland ausgeübt?

Gibt es die nach dem Brexit überhaupt noch?

Simms Es gab sie zumindest immer, ob nun durch Diplomatie oder Krieg, vom Frieden von Utrecht 1713 über den Wiener Kongress bis zum Zweiten Weltkrieg. Was in Europa geschah, wurde von den Briten maßgeblich mitgestaltet. Wenn sich jetzt die harte Linie durchsetzt, die die Briten von jeder Mitwirkung ausschließen will, würde das sein Ende finden. Auch das wäre ein gewaltiger Bruch.

Hat das britische Parlament durch die immer neuen Abstimmungen im Brexit-Prozess Schaden genommen?

Simms Was jetzt im Parlament passiert, beweist, dass das Vereinigte Königreich den vorliegenden Deal nicht unterschreiben kann. Und es zeigt die Macht des Parlaments. Solche Debatten sind auf dem Festland gar nicht mehr möglich, weil die Parlamente dort nicht mehr diese Macht haben. Ich glaube, es ist gut, dass das Unterhaus diese Fragen durcharbeitet und kritisch hinterfragt, wo die Interessen des Vereinigten Königreichs liegen. Schlecht fände ich, wenn es versuchen würde, den Brexit ohne Referendum oder Neuwahl rückgängig zu machen.

Gibt es für die Briten einen Weg zurück in die EU?

Simms Erst in 50 oder 60 Jahren, wenn die erste Generation in Verantwortung gewesen ist, die nur den Brexit gekannt hat, werden wir sagen können, ob die Entscheidung dauerhaft ist. Ich fürchte aber, dass sich in der Zwischenzeit die Gräben zwischen den Nationen vertiefen. Und aus diesem Grund, glaube ich, wird es keinen Weg zurück geben.

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