Interview mit Griechenland-Experte Bastian "Beide Seiten tun gut daran, verbal abzurüsten"

Berlin · Vor dem Treffen von Ministerpräsident Alexis Tsipras mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin fordert der in Athen lebende deutsche Griechenland-Experte Jens Bastian die Kanzlerin auf, die griechischen Wiedergutmachungsforderungen an Deutschland ernst zu nehmen. Die Regierung Tsipras werde diese Frage auch unabhängig von der extremen Krisensituation des Landes energischer vertreten als frühere Regierungen in Athen. Bastian war von 2011 bis 2013 Mitglied der EU Task Force für Griechenland.

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Griechenland fordert Wiedergutmachung von Deutschland wegen der Nazi-Verbrechen. Wie ernst müssen wir das nehmen?

Bastian Sehr ernst. Ich glaube, dass hier nicht nur innenpolitische Taktik im Spiel ist, sondern dass die neue Regierung tatsächlich einen Kurswechsel versucht. Frühere Regierungen haben das thematisiert, aber nicht konsequent durchgesetzt. Die Regierung Tsipras ist nun dazu entschlossen.

Das hängt gerade nicht mit der akuten Finanznot Athens zusammen?

Bastian Ich sehe das nicht so. Die griechische Regierung ist aber schlecht beraten, ihre Reparationsforderungen und die Rückforderung einer Zwangsanleihe des Nazi-Regimes in den Kontext der aktuellen Verhandlungen mit der Eurogruppe zu stellen. Das erschwert diese Verhandlungen nur noch mehr.

Was müsste jetzt sofort passieren in den Verhandlungen?

Bastian Das Wichtigste ist, dass beide Seiten ein konstruktives vertrauensvolles Arbeitsverhältnis herstellen. Dazu gehört, eine gemeinsame Sprache zu finden und eine Verabredung der Spielregeln. Vertrauliche Papiere der Öffentlichkeit zuzuspielen, steigert nicht das Vertrauen. Beide Seiten tun gut daran, verbal abzurüsten. Sie müssen sich auf komplexe Themen konzentrieren und sollten nicht weiter mit Interviews versuchen, die andere Seite unter Druck zu setzen. Ein weniger konfrontativer Stil ist absolut notwendig. Dabei hilft es allerdings auch nicht, wenn Belehrungen und erhobene Zeigefinger aus Berlin oder Brüssel kommen.

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Foto: dpa, sp ase tba

Gerade waren die "technischen Teams" der EU in Athen, um in die Budget-Bücher zu schauen. Gibt es überhaupt belastbare aktuelle Daten?

Bastian Das hängt davon ab, welches Mandat die technischen Vertreter der EU, der EZB und des IWF überhaupt haben. Haben Sie die Autorität, auf die Einsicht in die Bücher zu bestehen? Die andere Frage ist: Wie kooperativ ist die griechische Seite? Klar ist bereits, die Teams werden nicht mehr in die Ministerien gehen, sie können mit keinem Minister reden. Sie treffen sich in einem Hotel mit nachgeordneten Beamten aus den jeweiligen Ministerien. Wie diese im einzelnen dann vorbereitet sind, welchen Datensatz sie mitbringen, welche Rücksprache mit der Leitung zu organisieren ist, kann gegenwärtig nur schwer eingeschätzt werden. Auch hier muss erst Vertrauen aufgebaut werden. Damit wird einige Zeit verloren gehen.

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Foto: dapd, Michael Gottschalk

Bastian Vor allem im Finanzministerium ist man offenbar der Auffassung, Regierungsarbeit bestehe vornehmlich darin, Interviews zu geben, europäische Partner und internationale Kreditgeber zu belehren. Die Regierung ist ebenso damit beschäftigt, ihre dünne Personaldecke zu klären. Sie hat nicht nur keine Regierungserfahrung, sondern auch zu wenig Personal mit administrativer Regierungsexpertise. In den ersten sieben Wochen mussten wir erkennen, dass diese Koalition programmatisch schlecht vorbereitet war auf die Regierungsübernahme. Ein Koalitionsvertrag ist bisher nicht vorgelegt worden. Vieles muss jetzt unter enormem Zeitdruck passieren, noch dazu vor dem Hintergrund sinkender Steuereinnahmen und hoher Rückzahlungsverpflichtungen.

Was ist an den Reformvorschlägen von Finanzminister Varoufakis richtig?

Bastian Da sind einige gute Ansätze drin, etwa die Bekämpfung von Benzin- und Heizölschmuggel sowie Steuerhinterziehung. Wir haben solche Ansätze aber auch von den früheren Regierungen immer wieder gehört. Entscheidend ist, dass erkennbar wird, hier ist in griechischer Eigenregie ein durchdachtes Reformprogramm verabschiedet worden. Dies wird von der Verwaltung und der Bevölkerung dann auch akzeptiert. Es darf nicht mehr weiter so wahrgenommen werden, als sei es von außen oktroyiert. Aber die Umsetzung dieser Reformen wird Geld und Zeit kosten.

Sollte die Eurogruppe Griechenland mehr Zeit und Geld geben?

Bastian Griechenland hat bis Ende Juni eine Atempause erhalten. Wie die ersten Wochen allerdings genutzt wurden, ist nicht ermutigend. In der Zeit bis Ende Juni muss Griechenland seine Reformbereitschaft glaubwürdig unter Beweis stellen. Ein neues Programm für Griechenland ab Juli müsste sich auf mehr Investitionen, Exportförderung und Arbeitsplatzbeschaffung konzentrieren, aber nur unter der Voraussetzung, dass Strukturreformen effektiv umgesetzt werden. Bisher lag der Fehler in einer viel zu großen Fokussierung auf das Sparen. Wie ein neues Programm finanziert wird, kann man auch anders gestalten als bisher. Zum Beispiel könnte die Europäische Investitionsbank im Rahmen eines neuen Programms Garantien für zinsgünstige Kredite an kleine und mittlere Unternehmen geben — oder direkt als Investor auftreten. Ebenso ist die Europäische Wiederaufbau- und Entwicklungsbank in London zu berücksichtigen. Auch die von der EU Task Force unterstützte "Institution for Growth", eine Art griechischer KfW, sollte finanziell weiter ausgebaut werden.

Wie lautet Ihre Prognose für die kommenden Monate?

Bastian Wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, dass die kommenden drei Monate leichter werden als die zurückliegenden Wochen. Wenn wir Ende Juni tatsächlich zu einer weiteren Vereinbarung mit Griechenland gekommen sind, dann fängt im Juli trotzdem die Arbeit an den wirklich schwierigen Themen an. Dann wird die Frage einer Neustrukturierung der griechischen Verschuldung auf der Agenda sein.

Ohne Schuldenschnitt geht es also nicht?

Bastian Es gibt bereits einen Fahrplan der Eurogruppe von 2012, in dem steht, unter welchen Voraussetzungen über Schuldenerleichterungen mit Griechenland verhandelt werden kann. Die Eurogruppe muss realisieren, dass wir hier ein strukturell überschuldetes Land haben. Von der Illusion, dass Griechenland in der Lage sein wird, durch Wirtschaftswachstum aus diesen Schulden heraus zu kommen, müssen wir uns verabschieden. Griechenland wird nicht in der Lage sein, die Wachstumsraten zu erzielen und die Haushaltsüberschüsse zu erreichen, die dazu nötig wären, diesen Schuldenberg abzutragen.

Die Fragen stellte Birgit Marschall.

(mar)
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