„Komplett Kontrolle verloren“ Britisches Parlament will eigenen Brexit-Weg suchen

London · Premierministerin May sieht noch immer keine Mehrheit für ihren Brexit-Deal. Jetzt wollen die Abgeordneten selbst eine Alternative finden. Ein harter Brexit ist nach Einschätzung von DIHK-Präsident Eric Schweitzer wieder wahrscheinlicher geworden.

 Theresa May im britischen Parlament.

Theresa May im britischen Parlament.

Foto: dpa/House Of Commons

Bittere Niederlage für Premierministerin Theresa May: Gegen den Willen der Regierung wird das Unterhaus an diesem Mittwoch über Alternativen zum Brexit-Abkommen beraten. Ein entsprechender Antrag wurde am späten Montagabend im Unterhaus in der Schlussabstimmung mit einer Mehrheit von 327 zu 300 Stimmen angenommen.

Zweieinhalb Wochen vor Ablauf der verlängerten Frist für einen EU-Austritt Großbritanniens erhöhen die Abgeordneten den Druck auf May damit weiter. Mehrere Staatssekretäre legten ihre Ämter nieder, um gegen die Regierung votieren zu können.

Der Brexit-Experte der oppositionellen Labour-Partei, Keir Starmer, bezeichnete das Ergebnis via Twitter als „weitere demütigende Niederlage für die Premierministerin, die komplett die Kontrolle über ihre Partei, ihr Kabinett und den Brexit-Prozess verloren hat“.

Guy Verhofstadt, der Brexit-Beauftragte des Europaparlaments, erklärte, nun übernehme das Parlament in London die Kontrolle über den Brexit-Prozess. Dies sei eine Chance, um parteiübergreifend für eine erweiterte politische Erklärung (zum Brexit-Deal) und eine engere künftige Beziehung (zur EU) zusammenzuarbeiten.

Die Brexit-Hardliner im Parlament in London dagegen schäumten vor Wut. „Das ist eine konstitutionelle Revolution und das Haus wird es bereuen“, rief der Brexit-Veteran Bill Cash. Parlamentspräsident John Bercow hatte Mühe, die Ordnung im Plenarsaal aufrechtzuerhalten und zog am Ende die Wut der Brexiteers auf sich.

Unklar war zunächst, über welche Optionen genau abgestimmt werden und wie die Abstimmung ablaufen soll. Als Optionen werden unter anderem eine engere Anbindung an die EU oder auch ein zweites Referendum gehandelt. Aber auch eine direkte Abkehr vom Brexit durch Zurückziehen der Austrittserklärung ist im Gespräch. Ein Votum für eine dieser Varianten wäre rechtlich zwar nicht bindend, würde aber einen Hinweis darauf geben, wofür es eine Mehrheit im Parlament geben könnte.

Premierministerin Theresa May hatte zuvor eingestanden, dass sich noch immer keine Mehrheit für ihr Brexit-Abkommen abzeichnet. Daher wolle sie vorerst nicht erneut über das Vertragspaket zum EU-Austritt abstimmen lassen, sagte sie am Nachmittag vor dem Unterhaus.

„Nach jetzigem Stand gibt es noch immer keine ausreichende Unterstützung im Unterhaus, um das Abkommen für eine dritte Abstimmung vorzulegen“, so May. Zwei Mal ist die Regierungschefin bereits krachend mit dem Deal gescheitert.

Zuvor war spekuliert worden, das Parlament könnte bereits an diesem Dienstag erneut über den Deal abstimmen. Sie arbeite aber daran, eine Abstimmung noch in dieser Woche zu ermöglichen, fuhr May fort.

Die Regierung sei nicht gebunden, sollten sich die Abgeordneten auf eine Alternative zum Brexit-Abkommen festlegen, stellte May klar. Die automatische Folge einer Ablehnung ihres Deals sei immer noch ein Austritt ohne Abkommen. Zugleich beschwichtigte sie aber: „Ein No Deal wird nicht passieren, solange das Unterhaus dem nicht zustimmt.“

Es dürfe aber auch keine Abkehr vom Brexit geben, sagte May. Sie warnte zudem vor einem „langsamen“ EU-Austritt mit einer Verlängerung der Frist über den 22. Mai hinaus, womit eine Teilnahme an der Europawahl notwendig wäre, die vom 23. bis 26. Mai stattfindet.

Ursprünglich sollte Großbritannien die EU am 29. März verlassen. Die EU bot London in der vergangenen Woche eine Verschiebung des Brexits bis zum 22. Mai an. Bedingung dafür ist allerdings, dass das Unterhaus in dieser Woche dem Austrittsvertrag zustimmt. Andernfalls gilt die Verlängerung nur bis zum 12. April. In dem Fall soll London vor diesem Termin sagen, wie es weitergehen soll.

Die EU-Kommission wollte sich am Abend nicht zu Mays Ankündigungen äußern. Eine Sprecherin verwies lediglich darauf, dass nur noch bis Freitag Zeit sei, die Abstimmung zu organisieren. Wenn dies nicht geschehe, müsse Großbritannien bis zum 12. April eine überzeugende Alternative präsentieren - oder dann ohne Abkommen aus der EU austreten.

Die Regierung in London will sich noch diese Woche vom Parlament den Segen für eine Rechtsverordnung geben lassen, mit der das bisherige Austrittsdatum 29. März auch nach nationalen Recht verschoben werden soll. Sollte die Verordnung nicht gebilligt werden, entstehe zwar Verwirrung und schädigende Unsicherheit, an der Verschiebung des Brexit-Datums ändere sich aber nichts, sagte May.

Sollte Großbritannien tatsächlich ohne Austrittsvertrag aus der EU ausscheiden, wird mit dramatischen Folgen für die Wirtschaft und viele andere Lebensbereiche gerechnet. Millionen EU-Bürger in Großbritannien und Briten in der EU würden in große Unsicherheit gestürzt.

Ein harter Brexit ist nach Einschätzung von DIHK-Präsident Eric Schweitzer wieder wahrscheinlicher geworden. „Uns rennt die Zeit davon. Den deutschen Unternehmen können wir in dieser Phase nur raten, noch einmal einen Gang hochzuschalten und sich weiter auf einen harten Brexit vorzubereiten“, sagte Schweitzer unserer Redaktion. „In dieser Phase gibt es leider für niemanden Planungssicherheit. Das gilt für laufende Geschäfte, aber erst recht für Investitionen“, sagte Schweitzer.

„Mittlerweile verlagert nach der jüngsten DIHK-Umfrage zu internationalen Aktivitäten deutscher Firmen bereits jedes achte Unternehmen Investitionen von Großbritannien in andere EU-Staaten“, sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). „Wir müssen jetzt die Nerven behalten. Das sage ich im Interesse der deutschen Wirtschaft“, betonte Schweitzer. „Möglicherweise kommen jetzt in allerletzter Minute auch noch mal Alternativen zum Brexit-Weg der britischen Premierministerin auf den Tisch“, so Schweitzer.

So biete eine Zollunion die Möglichkeit, die Erhebung von Grenzabgaben zu vermeiden und die Zollbürokratie für Unternehmen einigermaßen im Rahmen zu halten. Auch die regulatorische Zusammenarbeit könne damit besser gewährleistet werden.

(cpas/dpa/mar)
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