Interview mit EU-Kommissionsvize Timmermans "Die Gewalt gegen Juden raubt mir den Schlaf"

Brüssel · Der Niederländer Frans Timmermans gilt als starker Mann der neuen EU-Kommission. Als erster Vize-Präsident ist er die rechte Hand von deren Chef Jean-Claude Juncker. Gleich zum Amtsantritt kippte Timmermans 80 geplante Gesetzesinitiativen. Er möchte ein Europa, das nicht mehr jeden Duschkopf reguliert. "Der Aufräumer" nennen sie ihn deswegen in Brüssel.

 Frans Timmermans ist die rechte Hand von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker.

Frans Timmermans ist die rechte Hand von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker.

Foto: dpa, sh

Herr Timmermans, wird die Terrorgefahr Europa ähnlich stark verändern wie die USA nach den Anschlägen von New York?

Timmermans Ich bin stolz darauf, wie würdig die Menschen in Europa auf diese schrecklichen Taten reagiert haben. Zwar empört, aber ohne Hass, ohne pauschale Anschuldigungen gegen die muslimische Minderheit. Das liegt vermutlich auch daran, dass wir aus den Erfahrungen nach den Terroranschlägen in den USA unsere Lehren gezogen haben. Das muss jetzt aber auch politisch gelten: Wir dürfen unsere Rechtsordnung angesichts der terroristischen Bedrohung nicht verbiegen — sonst haben die Terroristen ihr Ziel erreicht, unsere freiheitliche Gesellschaft zu zerstören.

Warum war die Reaktion auf die Anschläge von Paris derart überwältigend? Weil es um unsere Werte geht?

Timmermans Ja, so habe ich das empfunden. Wenn etwas so frontal angegriffen wird, was seit der Französischen Revolution zu Europa gehört, nämlich das Recht zu sagen, was man denkt, dann stehen wir Europäer dagegen auf. Aber was dabei ein wenig untergegangen ist und was mich wirklich um den Schlaf bringt, ist, dass sich jetzt die Juden in Europa wieder Sorgen um ihre Sicherheit machen müssen. Die EU kann die allerbeste Politik machen, aber sie wird trotzdem scheitern, wenn eine Gemeinschaft sich hier bei uns nicht mehr zu Hause fühlt. Dann haben wir den wichtigsten Grundgedanken Europas verraten. Das darf uns nicht passieren, auf keinen Fall!

Die Kommission will den Kampf gegen den Terrorismus verstärken. Wie soll das konkret aussehen?

Timmermans Ich denke, die Kommission sollte den Mitgliedsstaaten dabei behilflich sein, die EU-Außengrenzen besser zu schützen. Schengen ist nicht das Problem, es ist die Lösung. Aber nur unter der Bedingung, dass die Kontrolle der Außengrenzen gut funktioniert. Wir brauchen außerdem in Europa endlich ein System zum Austausch von Flugpassagierdaten. Und wir müssen neben diesen konkreten Maßnahmen im Kampf gegen den Extremismus auch versuchen, besser zu verstehen, warum junge Menschen, die in Europa geboren sind, sich plötzlich gegen diese Gesellschaft wenden. Sonst können wir das Problem nicht lösen.

Brauchen wir eine gemeinsame EU-Einwanderungspolitik?

Timmermans Einwanderung hat ja immer zwei Seiten. Zum einen müssen wir verhindern, dass Leute zu uns kommen, die eine Bedrohung für uns darstellen oder unsere Sozialsysteme ausnutzen wollen. Zum anderen brauchen wir Einwanderer dringend als Arbeitskräfte, in vielen Branchen ist das heute schon deutlich spürbar. Aber man wird das zweite nicht ohne das erste tun können: Wenn wir nicht den Missbrauch verhindern, wird es in der Bevölkerung keine Zustimmung zur Einwanderung geben. Und es ist klar, dass eine bessere Abstimmung in diesen Fragen zwischen den EU-Staaten da sehr hilfreich wäre.

Die EU wird nicht nur durch islamistischen Terror bedroht, sondern auch durch den Ukraine- Konflikt an ihrer Ostgrenze. Kann sich Wladimir Putin Hoffnungen machen, dass die Einheit der Europäer irgendwann doch wieder zerbricht?

Timmermans Da würde er sich gewaltig täuschen. Wir haben stufenweise mit Sanktionen auf die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine reagiert. Und wie Bundeskanzlerin Angela Merkel es ja ganz klar gesagt hat, wissen wir natürlich auch um die negativen Wirkungen auf unsere eigene Wirtschaft. Aber ökonomische Erwägungen müssen da einfach zurücktreten. Es geht um viel mehr, um die Sicherheit in Europa. Natürlich werden wir weiter versuchen, mit Russland zu reden. Wir könnten ein so wichtiges Land in Europa ja gar nicht ausgrenzen. Aber der Ball liegt jetzt bei Herrn Putin. Er muss sich bewegen.

Viele Menschen haben einfach Angst vor einem militärischen Konflikt. Michael Gorbatschow hat unlängst sogar vor einem Atom-Krieg gewarnt. Nehmen Sie das ernst?

Timmermans Ich verstehe diese Angst sehr gut. Ich diskutiere mit meinen Eltern auch darüber, deren Generation hat diese Angst. Aber ich glaube, wir würden unsere Zukunft aufs Spiel setzen, wenn wir aus dieser Angst heraus Putin einfach gewähren ließen.

Beim Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs über der Ost-Ukraine im vergangenen Sommer sind allein 196 Ihrer niederländischen Landsleute ums Leben gekommen. Glauben Sie, dass die Schuldigen jemals zur Verantwortung gezogen werden?

Timmermans Ja, das glaube ich. Die Ermittler, die unter niederländischer Führung arbeiten, machen eine gute Arbeit. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Gerechtigkeit am Ende siegen wird, auch wenn es lange dauert.

Wird die Ukraine weitere Finanzhilfen von der EU erhalten?

Timmermans Ja, das haben wir ja schon versprochen, allerdings gebunden an Reformen, die in der Ukraine durchgeführt werden müssen. Das ist etwas ganz Neues für die EU, dass wir ein Land finanziell so massiv unterstützen, dass keine unmittelbare Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft hat. Aber wir müssen die Ukraine unbedingt stabilisieren, das ist auch in unserem eigenen Interesse.

Am Sonntag dürfte in Griechenland die linkspopulistische Partei von Alexis Tsipras die Wahl gewinnen, der angekündigt hat, er wolle die griechischen Schulden nicht zurückzahlen. Sind Sie in Sorge?

Timmermans Ich mache mir zu dem Thema natürlich meine Gedanken, werde aber den Teufel tun, den griechischen Wählern aus Brüssel irgendwelche Ratschläge zu geben. Die Griechen müssen ihre Entscheidung treffen, und die Kommission wird nach der Wahl selbstverständlich auch mit der neuen griechischen Regierung eng zusammenarbeiten.

Gerade erst hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker angekündigt, dass die Regeln des Stabilitätspakts flexibler ausgelegt werden sollen. Ist das nicht ein Freibrief für Länder wie Italien oder Frankreich?

Timmermans Nein, wir haben lediglich die bisherige Praxis kodifiziert und die Anwendung von bestehenden Regeln präzisiert. Wir haben die Mission, für mehr Wachstum in Europa zu sorgen. Um das zu erreichen, wollen wir vorhandene Spielräume intelligent nutzen, ohne aber dabei die Regeln zu ändern. Auch in Deutschland gibt es ja Leute, die nicht glauben, dass stures Sparen allein uns aus der Krise bringt.

Gibt es eigentlich gute und schlechte Schulden?

Timmermans Na ja, alle Schulden muss man am Ende zurückzahlen, und zwar mit Zinsen. Genau genommen müssen es unsere Kinder tun, und ich finde, wir machen uns zuwenig Gedanken darüber, was wir den nächsten Generationen da für eine Bürde aufladen.

Die EU verhandelt mit den USA über ein Freihandelsabkommen. Gerade in Deutschland gibt es sehr starke Widerstände dagegen. Können Sie sich erklären warum?

Timmermans Ja, da kommt sehr viel zusammen. Anti-Amerikanismus, Globalisierungsangst, Angst vor der Schwächung des Sozialstaats und natürlich der NSA-Skandal. Wir können da nur eines tun: Erklären, um was es bei diesem Abkommen wirklich geht. Und da, wo es tatsächlich Probleme gibt, diese auch lösen. Wir müssen mit den Amerikanern knallhart verhandeln. Ich werde dem Vertrag nur zustimmen, wenn europäische Standards dadurch nicht beeinträchtigt werden. Klar ist: Wenn wir die europäisch Öffentlichkeit nicht von den Vorteilen überzeugen, wird es das Abkommen nicht geben. Und das wäre, davon bin ich fest überzeugt, ein riesiger Fehler.

Wirtschaftskrise, Ukraine-Konflikt, Terror: Wird die EU daran zerbrechen oder schweißen uns diese Herausforderungen im Gegenteil stärker zusammen?

Timmermans Ehrlich gesagt, beides kann geschehen. Als ich die Reaktion auf "Charlie Hebdo" gesehen habe, da war ich mir plötzlich ganz sicher, wir sind eine Gemeinschaft, wir teilen gemeinsame Werte. Wir teilen nicht unbedingt eine Kultur, wir sind durchaus unterschiedlich, aber wir sind eine Wertegemeinschaft. Da bin ich Optimist. Aber ich bin auch Realist. Die EU ist von Menschen geschaffen worden, sie kann auch von Menschen wieder demontiert werden.

Matthias Beermann führte das Interview.

(beer)
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