Europa-Sternfahrt Frank Vollmers Weg nach Straßburg (2)

(RP). Was bedeutet Europa den Europäern? Welche Sorgen, welche Hoffnungen haben sie? Drei Autoren unserer Redaktion haben den Kontinent erkundet. Frank Vollmer ist von Catania nach Straßburg aufgebrochen.

Frank Vollmers Weg nach Straßburg
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Kilometer 487: Straße Vallo in Lucania — Agropoli Eigentlich ist es eine ganz normale Landstraße, die sich im Tal des Alento durch das Gebirge windet — kreuzungsfrei ausgebaut, man kommt gut voran. Ich habe aber noch die Worte von Gino Fedullo im Ohr, der unweit, in Casal Velino, seinen Ferien-Bauernhof "I Moresani" betreibt. Es habe 40 Jahre gedauert, bis diese Straße fertig gewesen sei, hatte Fedullo gesagt. Die Straße sei das klassische Beispiel dafür, wie lange es in Italien oft dauere, bis das Geld seinen Bestimmungsort erreicht habe.

Über einem Tunnelportal hat jemand mit grüner Sprayfarbe einen Spruch angebracht: "Napoletani fuori dal Cilento!" — "Neapolitaner raus aus dem Cilento!" Auch das hat Gino Fedullo am Abend zuvor erklärt: Immer im Juli und August fielen die Bewohner der knapp 150 Kilometer entfernten Millionenstadt Neapel ins Cilento ein, um hier Ferien zu machen. "Das Problem ist aber", hatte Fedullo gesagt, "dass sie einfach keine Erziehung haben. Auf ein Dorf aus der Umgebung von Neapel, das gute Manieren hat, kommen zehn, die keine haben." Typisch Italien: Jahrhundertelang war das Land teilweise wie ein Schachbrett in kleine und kleinste Territorien aufgeteilt — jede Stadt behauptete ihre Selbstständigkeit, zumindest im Norden. Aber auch im Süden hat sich dieses kleinräumige Denken erhalten. Wer aus der Nachbarstadt, der Nachbarregion kommt, gilt schon fast als Ausländer. Das stärkt den Zusammenhalt im eigenen Ort. Aber es erklärt auch, warum Europa oft so weit weg ist.

Kilometer 582: Autobahn Salerno — Caserta

Irgendwo da links muss er sein. Laut Straßenatlas fahre ich praktisch direkt am Vesuv vorbei, sozusagen auf der Rückseite des Vulkans. Jenseits liegen Neapel und das Meer. Meine Autobahn verläuft praktisch am Fuß des Berges. Zu sehen aber ist nichts. Eine dicke, gelbliche Dunstglocke hat sich von Neapel um den Vesuv herumgeschoben. Die Luft flimmert, kein Wind geht: Smog. Wenn man ganz genau hinsieht, kann man eine bläuliche Silhouette erahnen. In Neapel auf der anderen Seite muss die Luft unerträglich sein.

Kilometer 679: Autobahn Caserta — Rom

Aus der flirrenden Luft arbeitet sich ein weißer Fleck heraus, auf halber Höhe zwischen Himmel und Erde. Nach und nach sind Einzelheiten zu erkennen: ein riesiges Bauwerk mit einem Glockenturm. Auf einem Bergsporn oberhalb der Autobahn liegt das Kloster Montecassino, das Stammhaus der Benediktiner. Von hier ging die Mönchsbewegung aus, die das Mittelalter prägte und Europas Gesicht mitbestimmt hat. Montecassino ist einer der geistigen und geistlichen Schwerpunkte des Kontinents. Es ist aber auch ein Mahnmal gegen den Krieg - 1944 zerstörte ein alliierter Bombenangriff die mittelalterlichen Gebäude, obwohl die deutsche Wehrmacht den Berg geräumt hatte. Man hat das Kloster direkt nach dem Krieg wieder aufgebaut. Ohne Montecassino wäre das neue Europa schwer vorstellbar gewesen.

Kilometer 1012: Arezzo

Die Armut hat in Arezzo ein neues Gesicht. Arezzo ist eine mittelgroße Stadt in der östlichen Toskana, etwa 50 Kilometer von Florenz entfernt. Arezzo ist das Klischee einer italienischen Kommune: auf dem Berg gelegen, überragt vom Domund einem zinnenbekrönten Rathaus, mit winkligen Gassen und einer großen Piazza. Hinter den Fassaden aber wachsen die Probleme. Andrea Dalla Verde, 34, sieht sie jeden Tag. Er ist Vizedirektor der Caritas Arezzo und Leiter der Casa San Vincenzo. Hierher kommen Menschen, die nichts haben: keine Arbeit, keine Wohnung, keine Hoffnung. Vor allem Italiener aus dem Süden, die im Norden ihr Glück machen wollen. Auch Drogenabhängige und Alkoholiker wohnen hier.

In der Casa San Vincenzo, sie hat 24 Plätze, arbeiten Caritas und Stadt Arezzo eng zusammen; 100.000 Euro im Jahr kommen von der Kommune. Immer mehr von den Hausbewohnern sind Frauen - Armut ist in Arezzo immer öfter weiblich. Dalla Verde, gelernter Politikwissenschaftler, ist seit der Gründung des Hauses im Jubiläumsjahr 2000 dabei. Der Palazzo war früher eine Krankenpflegerschule, bevor die Töchter der Christlichen Liebe des Heiligen Vinzenz von Paul das Haus übernahmen. Größtes Problem für die Menschen im Caritas-Haus sei, sagt Andrea Dalla Verde, sich selbst zu helfen: "Deswegen brauchen sie Ruhe, aber auch klare Regeln." Zum Beispiel, dass man die Privatsphäre anderer achtet. "Willst du zur Dusche?", ruft Dalla Verde einem bärtigen, etwa 50 Jahre alten Bewohner zu, der halbbekleidet durchs Zimmer schlurft und die Tür offengelassen hat. "Dann mach bitte die Tür zu."

Wer von der Stadt oder der Caritas einen Zugangs-Pass bekommt, darf 30 Tage bleiben — im Doppelzimmer, Frauen auch in Einzelzimmern. Bettwäsche stellt das Haus. "Früher waren wir besser zu den Leuten, da haben wir ihnen auch Handtücher gegeben", sagt Dalla Verde. "Die aber haben sie uns oft gestohlen." Alle, die hier wohnen, haben eine Aufenthaltsgenehmigung. "Die 'clandestini', also die illegalen Einwanderer, sieht man nicht mehr. Die rigide Gesetzgebung hat ihnen Angst gemacht. Aber sie sind weiter da."

Drei Viertel der Menschen in Arezzo, die Sozialhilfe bekommen, sind mittlerweile Italiener. Die italienische Familie, jahrhundertelang Kern des gesellschaftlichen Lebens, löst längst nicht mehr alle Probleme. "Über Armut wird bei uns viel zu wenig geredet", kritisiert Guido Tredici, "dabei sind Notfalleinrichtungen wie diese längst zu echten Volkshäusern geworden." Mit seiner "Cooperativa Futuro" betreut der 46-Jährige das Aufnahmezentrum der Stadt Arezzo. Früher seien vor allem Ausländer hergekommen, Jugoslawen, Albaner, "extracomunitari" eben, Menschen von außerhalb der EU: "Inzwischen haben sich die Einwanderer aber eigene Gemeinschaften aufgebaut." Zumindest die meisten. Taoufik Sayada dagegen ist auf sich gestellt. 1993 ist er aus Algerien nach Italien gekommen, um hier zu arbeiten und der Armut in seiner Heimat zu entkommen. Er ist allein, denn seine Familie wohnt weiter im Osten Algeriens, nahe der tunesischen Grenze. Sayada, 47, ist gelernter Barbier. "Aber in dem Beruf eine Stelle zu finden, ist extrem schwierig", weiß er. So hat er auf dem Bau gearbeitet, auf dem Feld und in Restaurants, in ganz Mittelitalien. Sayada klagt nicht. Es gehe einem immer so gut, wie man sich benehme, sagt er. Rassismus habe er nie erfahren. Bis er in Arezzo eine Wohnung hat, wohnt er im städtischen Aufnahmezentrum. "Und vielleicht gehe ich irgendwann einmal zurück nach Algerien."

Die meisten hier, sagt Tredici, blieben ein paar Monate; wer Arbeit hat, zahlt etwa 60 Euro im Monat für die Unterkunft im Zwei- oder Dreibettzimmer. Wer herkommt, hat oft zusätzlich Probleme mit der Familie oder ganz allgemein damit, sein Leben in den Griff zu bekommen. Tredici: "Seit etwa zwei Jahren bemerken wir, dass der Bedarf stark steigt. Im Moment ist es besonders schwierig — die Krise macht sich überall bemerkbar." Umso wichtiger wäre es, sagt er, dass eine nationale Diskussion über das Problem entstehe. "Aber Berlusconi", sagt Tredici und lacht dabei bitter, "beschäftigt sich ja lieber mit achtzehnjährigen Mädchen."

Abends, es ist schon fast dunkel, donnern Trommelschläge durch die Stadt. Auf dem Rathausplatz marschieren etwa zwei Dutzend junge Männer gemessenen Schritts im Takt der Schläge im Kreis. Sie üben — für die "Giostra del Saracino", ein mittelalterliches Ritterspiel, das zweimal im Jahr auf der Piazza Grande von Arezzo aufgeführt wird. Prächtig kostümierte Reiter versuchen, für ihr jeweiliges Stadtviertel mit der Lanze die hölzerne Figur des "Re Buratto" zu treffen. Der Buratto symbolisiert die Sarazenen, die arabischen Krieger des Mittelalters. Die jungen Männer, die heute Abend in Zivil ihren Auftritt üben, werden am 20. Juni als "Fanti del Comune", als "Fußsoldaten der Stadt", im Festzug auf die Piazza Grande marschieren, bevor die Ritter auf den Sarazenenkönig losstürmen. Das christliche Abendland gegen die muslimischen Eroberer — der martialische Ursprung des Spektakels ist mittlerweile verwischt. Europa ist schon viel weiter. Das hier ist nur Folklore. Zum Glück.

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