EU und die Türkei Flüchtlingsdeal ist in Kraft — kaum Vorbereitungen getroffen

Brüssel/Ankara · Der umstrittene Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei ist seit Mitternacht in Kraft. Mit der Umsetzung dürfte es aber zunächst hapern, denn Vorbereitungen sind kaum gelaufen. Wir beantworten die wichtigsten Fragen zu dem Pakt.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit dem griechischen Premier Alexis Tsipras, seinem niederländischen Amtskollegen Mark Rutte und Bundeskanzlerin Angela Merkel beim EU-Türkei-Gipfel am Freitag.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit dem griechischen Premier Alexis Tsipras, seinem niederländischen Amtskollegen Mark Rutte und Bundeskanzlerin Angela Merkel beim EU-Türkei-Gipfel am Freitag.

Foto: afp, JT

Wer nimmt wie viele Flüchtlinge auf?

Die Türkei hat angeboten, alle Flüchtlinge aufzunehmen, die von der Türkei nach Griechenland übersetzen. Dies betrifft dem Gipfelentwurf zufolge alle "neuen irregulären Migranten". Zurückgeschickt werden demnach Menschen, die nicht in Griechenland um Asyl bitten, deren Antrag unbegründet oder nicht zulässig ist. Dies soll bereits ab morgen der Fall sein. Dabei soll jeder Fall und jeder Asylantrag einzeln geprüft werden.

Für jeden von der Türkei zurückgenommenen Syrer will die EU im Gegenzug einen Syrer aufnehmen. Allerdings konnten sich die EU-Staats- und Regierungschefs nur darauf einigen, gerade einmal 72.000 Syrer aufzunehmen. Für Flüchtlinge aus anderen Ländern wurde nichts vereinbart. Wie die syrischen Asylbewerber verteilt werden, steht noch nicht fest. Bisher nahm die Türkei nach eigenen Angaben 2,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien auf — und damit mehr als jedes andere Land.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte oft beklagt, dass die Türkei mit dem Flüchtlingsproblem alleingelassen werde.

Was kostet die Einigung die Europäische Union?

Bis zu sechs Milliarden Euro könnten an die Türkei fließen, um das Flüchtlingsproblem zu lösen. Drei Milliarden Euro sind bereits zugesagt, bis 2018 will die EU laut Gipfelerklärung über weitere bis zu drei Milliarden Euro entscheiden. Voraussetzung sei, dass die erste Tranche aufgebraucht sei, zweckmäßig eingesetzt werde und die "erwünschten Ergebnisse" erzielt würden. Die Auszahlung der bereits beschlossenen drei Milliarden Euro soll nun beschleunigt werden.

Wie sieht es bislang mit der Umsetzung aus?

Das Abkommen könne nur stufenweise umgesetzt werden, weil viele Details wie das zügige Überprüfen und Zurückschicken von Neuankömmlingen noch nicht geklärt seien, sagten griechische Regierungsbeamte am Samstag. Zudem sei von den mehr als 2000 benötigten europäischen Experten noch niemand eingetroffen. Einzelheiten der geplanten Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei unbekannt, hieß es aus Behördenkreisen in Athen. Nach Einschätzung der EU-Kommission benötigt Griechenland zur Umsetzung des Übereinkommens schnell Hunderte Asyl-Experten aus anderen EU-Staaten. Bei der Bearbeitung von Asylanträgen würden etwa 400 Dolmetscher und 400 Asyl-Fachleute benötigt, erklärte die Brüsseler Behörde am Samstag. Für die Einspruchverfahren gegen geplante Rückführungen in die Türkei seien weitere 30 Dolmetscher sowie 30 Richter aus anderen EU-Ländern erforderlich. Insgesamt seien 4000 Mitarbeiter erforderlich, hieß es. Deutschland und Frankreich wollen jeweils bis zu 300 Beamte zur Verfügung stellen.

Können Türken künftig ohne Visum in die Europäische Union einreisen?

Die Aufhebung der Visumspflicht ist in der Erklärung des EU-Gipfels als Ziel bis Ende Juni festgelegt. Die Türkei muss dafür allerdings 72 Bedingungen erfüllen. Dazu zählt, dass Ankara ihre Datenschutzvorrichtungen und Passvorschriften an EU-Standards angleichen muss. Innerhalb der EU ist die Visafreiheit für türkische Staatsbürger umstritten. Zurzeit ist es so, dass zwar die meisten EU-Bürger ohne Visum in die Türkei einreisen dürfen. Türken hingegen müssen ein Schengen-Visum in einem aufwendigen Prozess beantragen. Das empfinden viele Türken als demütigend.

Was bedeutet die Einigung für die Chancen der Türkei auf EU-Mitgliedschaft?

Die EU und die Türkei wollen "die Entscheidung zur Öffnung weiterer Kapitel" bei den EU-Beitrittsverhandlungen des Landes vorbereiten. Insgesamt 35 Kapitel zu einzelnen Politikfeldern müssen ausgehandelt werden, bis die Türkei der Gemeinschaft beitreten könnte. Abgeschlossen ist bislang nur ein einziges. Haupthindernis eines Beitritts — abgesehen von politischen Widerständen unter anderem in Deutschland — ist die Weigerung der Türkei, das EU-Mitglied Zypern anzuerkennen. Zypern hatte deshalb zwischenzeitlich ein Veto gegen eine Flüchtlingsvereinbarung mit der Türkei angedroht. Das scheint aber vom Tisch zu sein.

Was wird getan, um die Flüchtlingsursachen zu bekämpfen?

Die EU und die Türkei sollen gemeinsam daran arbeiten, die humanitären Bedingungen in Syrien zu verbessern, da von dort die meisten Flüchtlinge kommen. Hintergrund ist die wiederholte Forderung Ankaras, die EU solle die Schaffung eines geschützten Gebiets für Flüchtlinge in Syrien unterstützen.

Wie fallen die Reaktionen auf die Einigung aus?

Die Opposition übt scharfe Kritik: "Angela Merkel hat eine europäische Lösung erreicht — aber damit ihre eigene humanitäre Haltung aufgegeben", sagte Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter unserer Redaktion. Die Verantwortung werde abgegeben an eine immer autokratischer agierende Türkei. Auch bei der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hieß es: "Griechenland wird zum Asyllager der EU, die Türkei zum Vorposten."

(das/dpa/AP/RP)
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