Historische Europawahl Grüne statt Groko und ein Dämpfer für Rechts

Berlin · Die informelle große Koalition im Europaparlament ist nach dieser Wahl Geschichte. Die kriselnde Groko in Berlin könnte es bald auch sein.

Eine junge Frau lässt sich am Tag der Wahl in Brüssel als Europaflagge schminken.

Eine junge Frau lässt sich am Tag der Wahl in Brüssel als Europaflagge schminken.

Foto: AP/Francisco Seco

Schon bei der Wahl vor fünf Jahren waren die beiden großen Blöcke kräftig geschrumpft. Jetzt haben sie erneut jeweils mehrere Dutzend Sitze eingebüßt und sind gezwungen, künftig mit kleineren Fraktionen Koalitionen zu bilden. Die absolute Dominanz der traditionellen Volksparteien ist damit auch auf europäischer Ebene Geschichte. Und auch die informelle große Koalition von Christ- und Sozialdemokraten, die in Europa seit Jahrzehnten die politische Richtung wie auch die Vergabe wichtiger Posten unter sich ausgemacht hatten.

In Berlin sahen am Sonntagabend einige schon eine ähnliche Entwicklung für die Bundespolitik voraus. Für CDU/CSU und SPD war es auch deswegen ein äußerst unangenehmer Wahlabend. Die Parteien der großen Koalition erzielten so schlechte Ergebnisse wie noch nie zuvor bei einer Europawahl und auch bei keiner anderen bundesweiten Abstimmung. Besonders die Sozialdemokraten verloren erneut stark. Die herben Einbußen der Regierungsparteien, obwohl sie nicht völlig unerwartet kamen, dürften die Diskussionen über die Stabilität des schwarz-roten Bündnisses in Berlin erneut befeuern.

Dabei wird es natürlich auch um Personen gehen. Um Annegret Kramp-Karrenbauer zum Beispiel. Für sie war es der erste Wahlabend als CDU-Chefin – und er endete mit einer bösen Schlappe. Zwar lag die Union in der Wählergunst weiter deutlich vor der Konkurrenz, aber erstmals sackte sie unter die 30-Prozent-Schwelle. Und dies, obwohl die Union mit dem CSU-Politiker Manfred Weber einen eigenen Mann als Spitzenkandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten ins Rennen geschickt hatte.

Noch schlimmer als die CDU-Vorsitzende erwischte es freilich einmal mehr SPD-Chefin Andrea Nahles, deren Partei ebenfalls ein desaströses Ergebnis einfuhr und dabei sogar erstmals bei einer bundesweiten Wahl unter 20 Prozent der Stimmen landete. „Extrem enttäuschend“, reagierte Nahles, die schon vor der Europawahl in den eigene Reihen unter starkem Druck stand und sich mit Putschgerüchten herumschlagen musste. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil kündigte am Wahlabend „Konsequenzen“ an, ohne diese aber genauer zu benennen. Bundesfinanzminister Olaf Scholz warnte vor einer Personaldebatte und verwies darauf, dass die SPD damit in der Vergangenheit keine guten Erfahrungen gemacht habe. Die Erfahrung zeigt aber auch, dass derartige Warnungen noch nie eine giftige Personaldebatte in der SPD verhindert haben – ganz im Gegenteil.

Strategische Gewinner in dieser Situation – und zwar sowohl in Europa wie in Deutschland – sind die Grünen. Seit Gründung der Bundesrepublik waren bei allen bundesweiten Wahlen die ersten beiden Plätze schon vorher für die beiden großen Volksparteien reserviert. Doch nun haben es die Grünen erstmals auf Platz zwei geschafft, und das auch noch mit einem mit einem Rekordergebnis. Dazu hat sicherlich beigetragen, dass wenigstens im Endspurt des deutschen Europawahlkampfs mit dem Klimawandel ein Thema im Vordergrund stand, bei dem die Grünen eine besonders hohe Glaubwürdigkeit genießen.

Ihr Europa-Spitzenkandidat Sven Giegold sprach am Wahlabend von einem „Sunday for Future“ – unter Anspielung auf die Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“, die in den vergangenen Wochen sehr aktiv vor allem auch für die Grünen getrommelt hatte. Allerdings sind die Grünen schon lange keine Einthemenpartei mehr und müssen sich jetzt der Debatte stellen, ob sie die SPD endgültig als Konkurrenz zur CDU im Kampf um das Kanzleramt ablösen wollen.

Auch im Europaparlament sind die Grünen bei dieser Wahl deutlich stärker geworden, wenn auch längst nicht in den Proportionen ihres deutschen Wahlergebnisses. Trotzdem kommt ihnen in Straßburg jetzt womöglich die Rolle des Königsmachers zu, wenn die Spitzenkandidaten der beiden größten Fraktionen, der CSU-Mann Manfred Weber für die EVP und der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans für die S&D, um Mehrheiten für ihre Wahl zum Kommissionspräsidenten feilschen müssen.

Und dann gab es bei dieser Wahl auch noch Gewinner, die sich aber nicht so recht als Sieger fühlen können: Zwar haben diverse rechtspopulistische, nationalistische und euroskeptische Parteien im Vergleich zur letzten Europawahl zugelegt, von einem klarer Rechtsruck in Europa, vor dem einige gewarnt und den andere erhofft hatten, kann aber keine Rede sein. Während die italienische Lega von Innenminister Matteo Salvini und der französische Rassemblement National (früher Front National) von Marine Le Pen in ihren Ländern als stärkste Kraft ins Ziel gingen, blieben die Ergebnisse von Rechtspopulisten in anderen Staaten hinter deren Erwartungen zurück. So holte Geert Wilders in den Niederlanden gerade mal rund vier Prozent der Stimmen, und auch in Österreich schnitt die FPÖ von Heinz-Christian Strache nach dem Skandal um das Ibiza-Video weit schwächer ab als noch unlängst prognostiziert.

In Deutschland blieb die AfD, die als einzige im Bundestag vertretene Partei einen betont EU-kritischen Wahlkampf gemacht hatte, den letzten Prognosen zufolge deutlich unter ihrem Rekordergebnis bei der Bundestagswahl 2017 von 12,6 Prozent. Von einer Mehrheit im Europaparlament sind die Rechtspopulisten auf jeden Fall meilenweit entfernt. Am Sonntagabend sagen die Projektionen der Wahlforscher sämtliche rechtspopulistischen, nationalistischen und EU-kritischen Abgeordnete bei insgesamt rund 120 von 751 Sitzen, die im Europaparlament zu besetzen sind. Ob diese Parteien, ihr erklärtes Ziel, die politische Arbeit des Parlaments zu sabotieren, umsetzen können, wird vor allem auch davon abhängen, ob sie es schaffen, eine große und schlagkräftige Fraktion zu bilden. Und das ist alles andere als sicher, denn die rechten und eurokritischen Parteien sind sich in vielen Fragen in Wirklichkeit nicht einig.

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