Grünen-Spitzenkandidatin Ska Keller Von wegen Praktikantin

Berlin · Franziska „Ska“ Keller ist Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl. Im EU-Betrieb wird sie oft unterschätzt – weil sie nicht „Schema F“ entspreche, sagt sie.

 Franziska „Ska“ Keller (37) Mitte Mai bei einer Grünen-Pressekonferenz.

Franziska „Ska“ Keller (37) Mitte Mai bei einer Grünen-Pressekonferenz.

Foto: AP/Michael Sohn

Manchmal ist es zum Haareraufen. Einmal drüber mit der Hand über den Kurzhaarschnitt. In Europa kann man schon an der Pforte scheitern – jedenfalls kurzfristig. Nach zehn Jahren im Europäischen Parlament könnten einen die Herrschaften vom Sicherheitsdienst doch kennen. Aber nein, als junge Frau werde man in Straßburg oder Brüssel ganz schnell auf „Praktikantin“-Status gestuft, ärgert sich Ska Keller, 37 Jahre alt, europäische Spitzenkandidatin der Grünen, die eigentlich Franziska heißt und ihren Vornamen auf die drei Endbuchstaben „Ska“ gekürzt hat.

Das passiere ihr immer wieder – auch nach zehn Jahren als Abgeordnete in und für Europa. Wenn man „nicht Schema F“ entspreche („Vor allem Männer um die Fünfzig und aufwärts in Anzügen sitzen da“), ordneten einen Bedienstete im Europäischen Parlament eben schnell als Praktikantin ein. „Das nervt“, sagt Keller.

Fürs Klima, für eine Klimawende, für einen Preis auf den Verbrauch des klimaschädlichen Kohlendioxids, für eine europäische Migrationspolitik, eine „faire Asylpolitik“ oder für die Rechte von Flüchtlingen ist Keller hingegen selbst gerne bereit zu nerven. Seit Jahren setzt sich Keller, die in Berlin und Istanbul Islamwissenschaft, Turkologie und Judaistik studiert hat, im Europäischen Parlament für ihre Themen ein. Sie ist in den vergangenen Wochen und Monaten Tausende Kilometer durch Deutschland und die Europäische Union getourt. Wenn es geht, nicht im Flugzeug.

Doch von einem Kontingent für Inlandsflüge, einer Abgabe bei Kurzstreckenflügen für einen Klimaausgleich oder gar von einem Verbot von Inlandsflügen will Keller nicht sprechen. Bloß nicht. Die Grünen arbeiten gerade hart daran, das Image der Verbotspartei loszuwerden. Keller riskiert keine Nachricht. Einfach mal einen rauszuhauen ist ihre Sache nicht. In den laufenden Kandidaten-Runden im Fernsehen zur Europawahl wie auch im persönlichen Gespräch spitzt sie kaum zu, Persönliches ist ihr kaum zu entlocken.

Stattdessen kommen häufig Sprachstanzen, der übliche Politsprech. Also bitte, wie steht sie zu einer Klimaabgabe auf Inlandsflüge? Keller: „Es wäre schon mal gut, wenn wir für die Bahn Wettbewerbsgleichheit mit den Fluglinien hätten. Fluggesellschaften zahlen keine Kero­sinsteuer, die Bahn auf ihren Strom schon.  Und dazu den vollen Mehrwertsteuersatz auf das Ticket im Fernverkehr, während Flüge ins Ausland von der Mehrwertsteuer befreit sind“, sagt sie im Gespräch mit unserer Redaktion. Ihre Schlussfolgerung: „Wenn also die Bahn günstiger und besser wird, machen wir Kurzstreckenflüge überflüssig.“

Was Keller keinesfalls überflüssig, sondern im Gegenteil so stark wie möglich machen will: Europa und das Europäische Parlament – trotz der geschilderten Praktikanten-Hürden auf dem Weg in den Plenarsaal. Im Alter von nur 27 Jahren war die Grünen-Politikerin bereits 2009 ins Parlament nach Straßburg gewählt worden.  2014 war sie dann erstmals Spitzenkandidatin der europäischen Grünen, nun tritt sie zum zweiten Mal als grüne Frontfrau an.

Ska Keller ist dabei gewissermaßen schon von ihrer Herkunft grüne Grenzgängerin. Aufgewachsen in der brandenburgischen Stadt Guben, die zu DDR-Zeiten noch den Zusatz „Wilhelm-Pieck-Stadt“ nach dem ersten Staatspräsidenten trug, erfuhr Keller in den Jahren nach der Wende, dass sie im freien Europa leben durfte. Direkt auf der anderen Seite der Neiße im polnischen Ort Gubin mussten die Menschen erst noch sehen, wann und wie sie nach Europa gelangen würden.

Jena am vergangenen Samstagabend.  Party der europäischen Grünen zum Eurovision Song Contest. Keller bildet mit dem Niederländer Bas Eickhout das Spitzenduo der Grünen für die Europawahl. Eurovision Song Contest. Singen für Europa. Vor vielen Jahren gewann Nicole für Deutschland mit „Ein bisschen Frieden“. Wie steht es um ein bisschen Frieden in Europa? „Die EU hat viel erreicht. Wir haben Frieden in der Europäischen Union, das können wir gar nicht genug wertschätzen, denn auf diesem Kontinent haben wir auch schon viele dunkle Zeiten erlebt. Die EU ist eine großartige Leistung unserer Vorväter und Vormütter“, sagt Keller. Europa sei unter anderem nach der Kündigung des INF-Vertrages über atomare Mittelstreckenraketen zwischen den USA und Russland „sicherheitspolitisch enorm gefordert. Auch die Klimakrise vertreibt Menschen. Also, für Frieden muss man ständig etwas tun.“

Kellers Devise: „Mit meiner Arbeit hoffe ich, nicht weniger als die Welt zu verändern. Das passiert oft in kleinen Schritten, und man braucht einen langen Atem. Aber mir ist es wichtig, immer klarzuhaben, wohin die Reise geht.“ Die Welt verändern – das geht laut Keller in der europäischen Flüchtlingspolitik auch dann, wenn nicht alle EU-Staaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen mitmachen wollen. „Zehn, zwölf oder 15 Länder, die das wirklich wollen, sind auch schon ein Wort. Dazu braucht es nicht immer alle 27 oder 28.“ Sie ist entschlossen. Im Namen der Sonnenblume. Für Europa.

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