“Regime nicht länger stabilisieren“ Europas Iran-Strategie vor einer radikalen Wende?
Brüssel · Einen Regime-Wechsel von außen lehnt die Europäische Union in ihrer Politik gegenüber dem Iran ab. Doch es wachsen die Zweifel, ob angesichts der Protestwelle im Innern ein Festhalten an einer Stabilisierung des Regimes durch Europa noch klug ist.
Eigentlich hätte sie an diesem Abend Michelle Obama treffen können. Doch Natalie Amiri, die prominente deutsch-iranische Autorin und TV-Moderatorin, hält am Versprechen ihres Brüssel-Besuches fest, um in der Hessischen Landesvertretung vor großem EU-Publikum die Frage zu erörtern, ob Europa eine neue Iran-Strategie braucht. Ein Jahr nach dem Tod von Mahsa Amini, der eine beispiellose Protestwelle auslöste, führt Amiri den Alltag im Iran voll Brutalität, Unterdrückung und Mord eindringlich wie faktenreich vor Augen. Sie berichtet vom Mut der Menschen, ihr Leben einzusetzen, um die Verhältnisse zu wenden, und stellt fest: „Auch wir können in Brüssel eine mutigere Politik machen, wir müssen uns nur trauen.“
Eine ist nicht im Raum, aber sie wird immer wieder angesprochen: Annalena Baerbock, die sich bei fast jedem Außenministertreffen in Brüssel erneut an die Seite der Protestierenden stellt. Tatsächlich habe die deutsche Grünen-Politikerin mit ihrer „feministischen Außenpolitik“ bei den Iranerinnen „enorme Erwartungen geweckt“, diese aber bitter enttäuscht. Amiri schildert, wie die iranische Aktivistin Masih Alinejad fünf Mal versucht habe, sich mit Baerbock am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz zu treffen. Doch die deutsche Außenministerin habe selbst diese kleine Geste abgelehnt.
Christoph Heusgen, der neue Leiter der Sicherheitskonferenz, hatte sich genau das getraut: Nicht wieder die offizielle iranische Delegation in den Münchner Hof einzuladen, sondern diejenigen, die für die Opposition im Iran stehen. Baerbock zeigte ihnen die kalte Schulter. Von ihren Bekannten aus dem Iran weiß Amiri, wie ein solcher Umgang in der Protestbewegung ankommt: „Alle sind entsetzt von Europa, weil Europa bis jetzt nichts getan hat.“
Die Autorin arbeitet das Interesse der EU an einer Wiederbelebung des Atomabkommens als Motiv heraus. Tatsächlich habe sich der Iran bis 2018 offensichtlich an die Auflagen gehalten, auch noch ein Jahr lang, nachdem der damalige US-Präsident Donald Trump ausgestiegen sei. Doch Europa habe die Zeit nicht genutzt, und nun habe der Iran die Uran-Anreicherung derart intensiviert, dass er offensichtlich genug waffenfähiges Material habe. So hinterfragt Amiri, ob unter diesen Vorzeichen, dem Vernichtungswillen, der Brutalität, den Geiselnahmen und den Waffenlieferungen an Russland eine Stabilisierung des Regimes wirklich im europäischen Interesse liege.
Noch ist das offizielle Europa allen Sanktionslisten zum Trotz auf den alten Gleisen unterwegs. Erst vor wenigen Tagen machte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Rande der UN-Versammlung in New York dem iranischen Außenminister Hossein Amir-Abdollahian seine Aufwartung. Fernsehbilder zeigen, wie er ihm freundschaftlich auf die Schulter klopft - obwohl Borrell kurz zuvor bestätigte, dass der Iran einen EU-Diplomaten seit vielen Monaten als Geisel in Haft hält. Hessens Europa-Staatssekretär Uwe Becker ergänzt mit dem Hinweis, dass ein von iranischen Agenten entführter Deutscher in Teheran in der Todeszelle sitzt.
„Es geht nicht, dass der EU-Außenbeauftragte angesichts der Hinrichtungen den iranischen Außenminister auf dem roten Teppich trifft“, sagt die Grünen-Menschenrechtsexpertin Hannah Neumann unserer Redaktion. Amiri bezeichnet es als „verheerendes Signal“, dass die Vereinten Nationen dem Iran den Vorsitz über den Menschenrechtsrat übertragen - während das Regime alle sechs Stunden einen Oppositionellen hinrichtet und protestierenden jungen Leute mit Schrotkugeln das Augenlicht nimmt.
Doch es tut sich was. Jedenfalls versucht das Europäische Parlament, eine andere EU-Iran-Strategie auf den Weg zu bringen. „Natalie Amiri hat Recht: die bisherige EU-Iran-Politik hat nicht funktioniert“, unterstreicht die Europa-Abgeordnete Neumann. „Wir sollten aufhören, an der Wiederbelebung des Atomabkommens zu arbeiten, wenn es nur dazu beiträgt, diesem brutalen Regime internationale Anerkennung zu verschaffen. Auch der Außenexperte der Europa-CDU, Michael Gahler, spricht sich dafür aus, das Atomabkommen „für faktisch tot zu erklären“. Spätestens seit der aktiven Unterstützung des russischen Angriffskrieges durch den Iran müsse Europa der Realität ins Auge blicken.
Mit Interesse verfolgen beide Abgeordneten Amiris Einschätzung von Persönlichkeiten, die die Opposition im Iran einen könnten. Prinz Reza Pahlavi gehöre sicherlich dazu. Pahlavi ist mit Frau und Töchtern im Exil. Das Regime in Teheran habe regelrecht „Angst“ vor ihnen, berichtet Amiri. „Wir müssen die demokratische Opposition im Exil unterstützen und ihr auch im Europäischen Parlament eine Bühne bieten“, weiß Gahler nach Amiris Auftritt in Brüssel.
Möglicherweise gibt es dazu schon bald Gelegenheit, jedenfalls sind posthum Amini und die iranische Frauenbewegung für den Sacharow-Menschenrechtspreis des Parlamentes nominiert. Sollte die Opposition in Brüssel ihre Visionen ausbreiten, könnte sie an den Brief einer jungen Iranerin anknüpfen, den Amiri vorliest und der schildert, was alles im Iran und in der Region anders wäre, wenn der Iran nicht mehr von einem Mullah-Regime, sondern von einer demokratisch gewählten Frau regiert würde. Es ist eine lange Liste. Vom Ende des Jemen-Krieges bis zum Frieden mit Israel, von der Schwächung Russlands bis zur Stärkung der Region - von Amini zusammengefasst in der Feststellung: „Und alles wäre im Interesse der Europäischen Union.“