Überraschend große Ablehnung In Italien und Frankreich ist ein EU-Austritt nicht mehr undenkbar

Düsseldorf · Nach der Umfrage eines britischen Instituts in neun EU-Mitgliedsländern lehnen weit mehr Europäer die Union ab als weitläufig angenommen. Vor allem in Frankreich und Italien macht sich Anti-Stimmung breit. Den Zahlen nach ist jeder dritte Deutsche dafür, die EU zu verlassen. Auch die Wahrscheinlichkeit eines Brexits ist gestiegen.

Am Montag veröffentlichte das anerkannte britische Meinungsforschungsinstitut Ipsos Mori die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage, für die mehr als 11.000 Menschen in neun Mitgliedstaaten der Union und einigen Commonwealth-Staaten befragt wurden.

In Europa fand die Umfrage in mehreren Ländern statt, die der europäischen Integration eigentlich traditionell verbunden sind: Interviews geführt wurden im März und April in Deutschland, Frankreich, Italien und Belgien, außerdem in den jüngeren Mitgliedstaaten Polen, Ungarn sowie Österreich, Großbritannien und Schweden. In den neun Ländern leben rund 75 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung.

Die Stimmung variiert

Das Ergebnis lässt in überraschender Deutlichkeit auf eine wachsende EU-Skepsis schließen. Dafür sprechen insbesondere die Antworten auf zwei Fragen. So fordert fast jeder Zweite (45 Prozent), in seinem Land ein Referendum über die EU-Zugehörigkeit abzuhalten. Ein Drittel (33 Prozent) würde in einer solchen Volksabstimmung dann mit "Nein" stimmen.

Die Stimmung variiert je nach Land. Dabei fällt auf, dass die Ablehnung in Polen und Ungarn mit 22 Prozent und 29 Prozent eher gering ausfällt. Dabei mussten sich zuletzt die Regierungen beider Länder gegen dem Vorwurf zur Wehr setzen, einen national-autoritären Kurs zu Lasten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu fahren. In der Flüchtlingsfrage stellten beide Länder nationale Interessen in den Vordergrund.

Ausgeprägter ist die Anti-EU-Stimmung hingegen in Italien und Frankreich. 58 beziehungsweise 55 Prozent wollen ein Referendum, in Italien würden 48 Prozent für den Austritt stimmen, in Frankreich 41 Prozent. Dabei sind beide Länder Gründungsmitglieder, insbesondere Italien galt seitdem als ausgeprägt europafreundlich. Doch haben die Krisen der vergangenen Jahre die Stimmung scheinbar kippen lassen. Rom war bitter enttäuscht, als es von den Europäern mit den Flüchtlingen aus dem Mittelmeer allein gelassen wurde, Frankreich dreht sich im Kampf gegen wirtschaftliche Stagnation und Terrorgefahren zunehmend um sich selbst.

Aber auch in Deutschland ist Europa umstritten. In der Umfrage nimmt die Skepsis erheblich größere Ausmaße an als die Wahlergebnisse der euroskeptischen AfD vermuten lassen. 40 Prozent der Deutschen fordern demnach ein Referendum, 34 Prozent würden für den Austritt stimmen.

Die Stimmung kippt

Die Ergebnisse unterscheiden sich deutlich von denen einer ähnlichen Umfrage aus dem Sommer 2015. Damals hatte das amerikanische Pew-Institut gerade ein Wiedererwachen Europas registriert. Demnach hatten 58 Prozent der Deutschen ein positives Bild von der EU, bei den Italienern sogar zwei Drittel. Auch wenn die Umfragen nur bedingt vergleichbar sind: Ein Stimmungswechsel ist nicht wegzudiskutieren, zu eindeutig sind die Umbrüche.

Zudem decken sich die Ergebnisse mit einer Beobachtung, die typisch ist für Stimmungsumfragen: Je ernster die Krise, desto eher neigen Menschen dazu, Zuflucht in nationalen Antworten zu suchen. Dies spiegelt sich auch in der wachsenden Zustimmung für antieuropäische Parteien wie den Front National oder die Alternative für Deutschland.

Entsprechend ändern sich auch die Erwartungen an das in sechs Wochen bevorstehende Referendum in Großbritannien. So rechnet laut Ipsos jeder zweite Europäer damit, dass die Briten am 23. Juni für den Austritt aus der Union stimmen werden. In Frankreich glauben dies sogar 58, in Italien sogar 60 Prozent der Befragten. In Deutschland geht hingegen immer noch eine Mehrheit (59 Prozent) davon aus, dass Großbritannien in der EU bleibt. Ähnlich das Bild auf der Insel selbst, wo gar 65 Prozent mit einem "Ja" zu Europa rechnen.

Allerdings mehren sich auch dort die Anzeichen für einen Stimmungswechsel. So teilte die Britische Handelskammer am Dienstag Ergebnisse einer eigenen Umfrage unter ihren Mitgliedern mit. Demnach wuchs die Zahl der Befürworter eines Austritts um sieben Prozentpunkte auf 37 Prozent. Die Zahl der EU-Befürworter sei hingegen von 60 auf 54 Prozent zurückgegangen. Unter den britischen Wählern halten sich den jüngsten Umfragen zufolge Anhänger und Gegner einer EU-Mitgliedschaft annähernd die Waage.

(pst)
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