EU-Kommissar de Gucht im Interview "EU-US-Freihandelszone soll 2014 kommen"

Brüssel · Karel de Gucht hat ein Mammut-Projekt vor sich: Der Brüsseler Kommissar will mit den USA ein transatlantisches Freihandelsabkommen aushandeln und so in der Krise Wachstumspotenziale durch den Abbau von Handelshemmnissen freisetzen.

 Karel de Gucht will das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA schnell in trockene Tücher bringen.

Karel de Gucht will das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA schnell in trockene Tücher bringen.

Foto: dpa, Julien Warnand

Bringt das Wahlergebnis in Italien die Eurokrise zurück?

De Gucht: Das Wahlergebnis ist beunruhigend. Es ist unklar, wie eine stabile Regierung zustande kommen soll. Aber es ist offensichtlich, dass Italien nicht vom Konsolidierungskurs abweichen kann, ohne von den Märkten dafür abgestraft zu werden. Die Defizite — nicht nur in Italien — müssen weiter zurückgeführt werden, auch wenn das unbeliebt ist. Es gibt dazu keine Alternative.

Aber sparen sich die Krisenstaaten nicht kaputt?

De Gucht: Wir brauchen Wachstum in Europa, aber nicht, indem wir Geld ausgeben, das wir nicht haben.

Sondern?

De Gucht: Indem wir etwa die Potenziale des Freihandels freisetzen. Letzteres hat Europa bereits in den vergangenen beiden Jahren vor einem Abrutschen in die Depression bewahrt. Täglich werden zwischen der EU und den USA etwa Waren und Dienstleistungen im Wert von beinahe zwei Milliarden Euro ausgetauscht, was zur Schaffung von Jobs und Wachstum beiträgt. Die transatlantischen Handelsbeziehungen sind das Rückgrat der Weltwirtschaft, stehen für fast die Hälfte des globalen Bruttoinlandsproduktes. Nun wollen wir noch bestehende Handelshemmnisse weiter abbauen.

Mit welchen Vorteilen für Europa?

De Gucht: Ein umfassender Abbau von Handelshemmnissen bedeutet für die EU bis 2027 einen jährlichen Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes von 0,5 Prozent und für die USA von 0,4 Prozent. Das entspricht jährlichen Zusatzeinnahmen von 86 Milliarden Euro für die EU-Wirtschaft und 65 Milliarden Euro für die US-Wirtschaft.

Geht es dabei nur um Zölle?

De Gucht: Nein. Auch um technische Standards. Wenn etwa unterschiedliche Zulassungsvoraussetzungen für Autos fallen, bedeutet das Milliarden-Einsparungen für die Unternehmen. Es geht aber auch um die Zukunft: Gemeinsame Ladestecker für Elektroautos etwa könnten Standards für die ganze Welt setzen.

Ein Streitpunkt ist die Agrarpolitik: Müssen die Europäer künftig gentechnisch veränderte Lebensmittel auf dem Teller akzeptieren, wie es in Amerika längst üblich ist?

De Gucht: Das Gerede von Frankenstein-Food ist Panikmache. Es geht nicht darum, bestehende EU-Regeln aufzuweichen oder zu unterlaufen. Auch danach ist es übrigens möglich, gentechnisch veränderte Lebensmittel auf den europäischen Markt zu bringen. Meine Intention ist es nicht, das einfacher zu machen — auch wenn die Amerikaner das sicher gerne hätten.

Und was ist mit den berühmten Chlor-Hühnchen?

De Gucht: Ich rate zu ein bisschen mehr Pragmatismus. Von Hühnchen, die zum Abtöten von Keimen in eine Chlorlauge getunkt wurden, wie es in Amerika üblich ist, geht keine Gesundheitsgefahr aus. Wir sollten es in der EU kennzeichnen. Dann kann der Verbraucher entscheiden, ob er Chlorhühner essen will oder nicht.

Kritiker warnen vor einer Wirtschafts-Nato. Riskieren wir, China zu verärgern?

De Gucht: Ich kann mir vorstellen, dass die Chinesen verärgert sind, denn ein transatlantisches Freihandelsabkommen ist ein "game changer" auf globaler Ebene. Meine Aufgabe ist es aber nicht, den Chinesen zu gefallen, sondern Wohlstand in Europa zu sichern — auch für künftige Generationen.

Könnte das bilaterale Abkommen zwischen Europa und den USA der Doha-Runde zur Liberalisierung des Welthandels endgültig den Todesstoß versetzen?

De Gucht: Wir wollen ein multilaterales Abkommen, können aber angesichts der schnell fortschreitenden Globalisierung nicht darauf warten. In vielen Entwicklungs- und Schwellenländern gibt es eine Tendenz zum Protektionismus. Doch Freihandel braucht die Bereitschaft zur Öffnung auf allen Seiten.

Bis wann soll das transatlantische Freihandelsabkommen unter Dach und Fach sein?

De Gucht: Mein Ziel ist es, das Freihandelsabkommen noch unter der amtierenden Kommission abzuschießen — also bis November 2014. Das würde auch mit den Halbzeitwahlen in Amerika zusammenfallen, wäre also ein idealer Zeitpunkt für US-Präsident Barack Obama.

Anja Ingenrieth sprach mit de Gucht.

(RP/felt)
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