EU-Abkommen mit der Türkei Ein Pakt mit 1000 Fragezeichen

Brüssel · Jetzt ist es beschlossene Sache: Die EU will mit Hilfe der Türkei die Außengrenzen abschotten. Doch die Vereinbarung steht auf äußerst wackligen Füßen. Als Gewinner steht erst einmal Ankara da.

 Als kompaktes Trio präsentierten sich nach Gipfel-Ende der türkische Regierungschef Davutoglu und die EU-Spitzen Donald Tusk und Jean-Claude Juncker.

Als kompaktes Trio präsentierten sich nach Gipfel-Ende der türkische Regierungschef Davutoglu und die EU-Spitzen Donald Tusk und Jean-Claude Juncker.

Foto: afp, TC

Es ist die Botschaft, die Angela Merkel so dringend braucht und Flüchtlinge so sehr fürchten: Die Europäische Union schottet sich ab. Beschlossen am 18. März 2016 in Brüssel. Mit Hilfe der Türkei. Einem Land, das seit Jahrzehnten um Aufnahme in die EU bittet, deren Werte aber nicht unbedingt teilt.

Jedenfalls hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan das just vor dem Gipfel so erklärt. Unter dem Eindruck eines neuen Anschlags in Ankara sagte er zu Forderungen nach mehr Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat: "Für uns haben diese Begriffe absolut keinen Wert mehr."

Zunächst geht es um 72.000 Menschen

In dieses Land wird die EU dann erst einmal Flüchtlinge zurückschicken, die ab Sonntag illegal auf die griechischen Inseln kommen - das haben die 28 Mitgliedsstaaten am Freitag mit dem türkischen Ministerpräsident Ahmet Davutoglu vereinbart.

Von der Türkei aus sollen dann syrische Flüchtlinge legal in EU- Staaten umgesiedelt werden. Aber erst einmal nur bis zu 72 000. Und diese Zahl ist keine zusätzlich vereinbarte Aufnahme von Menschen, sondern nur Teil der bisher bereits beschlossenen Gesamtzahl von rund 180 000 Menschen, denen die EU Zuflucht gewähren will.

Angesichts des bisherigen "Versagens der EU", wie Kritiker schimpfen, erscheint aber fraglich, ob diese Umsiedlung schnell gelingt. Bisher wurden nur 5492 Menschen aufgenommen. Zum Vergleich: Nach Deutschland kamen 2015 rund eine Million Flüchtlinge. Vielleicht wurde in Brüssel deshalb gleich vereinbart: Falls die Zahl von 72.000 überschritten wird, muss neu nachgedacht werden. Kann Erdogan Europa dann weiter unter Druck setzen? Und was geschieht mit den Menschen, die auf anderen Fluchtrouten, etwa wieder über Italien, kommen?

Für die Kanzlerin ist der Flüchtlingspakt trotz aller offener Fragen ein Erfolg. In mühseligen Verhandlungen hat sie das erreicht, wovon sie seit Monaten spricht: eine europäische Lösung. Noch Mitte Februar war eine (kleine) Koalition von willigen EU-Staaten zerbrochen.
Deutschland - Merkel - wirkte völlig isoliert in ihrem Bemühen, nationale Grenzschließungen zu verhindern und eine gemeinsame Politik zum Schutz der EU-Außengrenze, Bekämpfung von Fluchtursachen und geordneter Flüchtlingshilfe zu machen.

Mit dem Pakt setzt die EU darauf, dass in den nächsten Monaten die Zahl der Flüchtlinge zurückgeht - wenn sich denn alle an die getroffenen Vereinbarungen halten. Und wenn die Abschreckung funktioniert, die die EU mit diesen Plänen gleichzeitig bewirken will: Schlepper sollen Nato-Schiffe in der Ägäis fürchten und Flüchtlinge die Gefahr, dass sie Hab und Gut für eine gefährliche Reise geben - und am Ende doch vor den Toren Europas stranden.

"Kommen Sie nicht nach Europa", hatte EU-Gipfelchef Donald Tusk gesagt. So lautet jetzt die Botschaft der ganzen EU. Merkel sagt:
"Wer sich auf diesen gefährlichen Weg begibt, riskiert nicht nur sein Leben, sondern hat eben auch keine Aussicht auf Erfolg." Das müsste selbst Merkels schärfsten Widersacher besänftigen. CSU-Chef Horst Seehofer forderte Monate lang ein entsprechendes Signal - aber auch Abschottung und eine deutsche Obergrenze für Flüchtlinge.

Dagegen hat sich Merkel erfolgreich gewehrt. Ihr Fazit des Tages ist, "dass Europa es schaffen wird". Da ist es wieder, Merkels "Wir schaffen das". Auf die Frage, ob Seehofer aus ihrer Sicht nun Ruhe geben müsste, sagt die CDU-Chefin emotionslos, es sei eine "nachhaltige" Lösung und "keine Scheinlösung" gefunden worden.
Scheinlösungen sind für sie Grenzschließungen wie an der Balkanroute.

Zunächst hatte sich in der türkischen Delegation am Freitag Enttäuschung breit gemacht, dass die EU sich so schwer mit Zugeständnissen tut. Schließlich habe die Türkei - außer mehr Geld - keine Forderungen gestellt, die wesentlich über das hinausgingen, was die EU ihr bereits beim ersten Gipfel im November zugesagt habe, hieß es. Und zu den Finanzhilfen stellte Davutoglu noch einmal klar, dass die bis zu sechs Milliarden Euro nicht für die Türkei seien, wie in Europa oft behauptet werde - sondern für die Flüchtlinge im Land.

Dann kam es aber doch zur Einigung. Und nun wirkt die Türkei trotz der Lasten, die sie zu schultern hat, wie ein Gewinner. Davutoglu spricht von einem "historischen Tag". "Heute erkennen wir, dass die Türkei und die EU dasselbe Schicksal, dieselben Herausforderungen, dieselbe Zukunft haben", sagt er. "Es gibt keine Zukunft der Türkei ohne die EU, und keine Zukunft der EU ohne die Türkei."

Besonders wichtig ist der Türkei die Wiederbelebung des EU-Betrittsprozesses, die jetzt in Gang kommen könnte, obwohl Zypern - das endlich eine Anerkennung als souveräner Staat durch die Türkei fordert - Bedenken angemeldet hatte. Und wenn alles glatt läuft, dürften Türken die ersehnte Visafreiheit bei Reisen in den Schengen-Raum ab Ende Juni bekommen. "Das ist ein 50, 60 Jahre alter Traum für unsere Bürger", hatte Davutoglu vor dem Gipfel gesagt.

Die Kurden machen Sorgen

Umstritten ist die Visafreiheit innerhalb der EU-Staaten trotzdem.
Gegner befürchten, dass dann massenweise Türken gerade nach Deutschland strömen könnten, um sich dort illegal niederzulassen.
Nicht zuletzt bereitet der eskalierende Kurdenkonflikt zunehmende Sorge in Europa. Nach Angaben der türkischen Regierung hat die Gewalt bereits mehr als 350 000 Menschen im Südosten des Landes vertrieben, und diese Zahl dürfte noch steigen. Nach dem Ende der Visapflicht könnten viele Kurden versucht sein, in der EU Schutz zu suchen.

Für ein Delegationsmitglied von Davutoglu ist die Leistung der Türkei bei diesem Pakt aber unbestritten: Damit würden Leben in der Ägäis gerettet, sagt er - und die EU sehe in der Flüchtlingskrise endlich "Licht am Ende des Tunnels".

(pst/dpa)
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